Die Theologische Fakultät im Licht des Nachsynodalen Apostolischen Schreibens "Ecclesia in Europa"

Grußwort von Zenon Kardinal Grocholewski an die Kath.-Theologische Fakultät der Universität Erfurt

Feier des Patronatsfestes der Fakultät am 14. November 2003



Einleitung


a. Es ist mir eine besondere Freude, dieses Patronatsfest der Theologischen Fakultät Erfurt mit Ihnen zu feiern, das die Fakultät erstmals als "Katholisch-Theologische Fakultät? der Universität Erfurt begeht. Von Herzen danke ich Ihnen, Hochwürdigster Herr Bischof Wanke, für die freundliche Einladung und ebenso herzlich grüße ich insbesondere die Vertreter der Universität Erfurt und der staatlichen Behörden, die sich zu diesem Anlass eingefunden haben.


b. Die Geschichte der Theologischen Fakultät - damals "Philosophisch-Theologisches Studium Erfurt? - reicht tief zurück in das knappe halbe Jahrhundert kommunistischer Herrschaft in diesem Teil Deutschlands und Europas. In der Zeit der kommunistischen Regierungen wurden die theologischen Fakultäten und Ausbildungseinrichtungen mehr als alle anderen akademischen Institutionen gedemütigt und verletzt. Gedemütigt, weil sie in verschiedenen Ländern aus den Universitäten verbannt wurden, da sie der neuen Wirklichkeit, die sich selbst als progressiv unter Beweis stellen wollte, für nicht angemessen gehalten wurden. Die von der Theologischen Fakultät betriebene Wissenschaft wurde mit den Etiketten der Wissenschaftsfeindlichkeit und der Rückschrittlichkeit der Lächerlichkeit preisgegeben. Verletzt wurden die Fakultäten in ihrem inneren Wesen als Zentren des theologischen Denkens und der theologischen Ausbildung. Die staatlichen Behörden - fachlich vollkommen inkompetent und mit atheistische Vorurteil - maßten sich in manchen Fällen das Recht an, Professoren zu ernennen beziehungsweise wollten die Fakultät sogar entsprechend ihrer eigenen Ideologie indoktrinieren. Darüberhinaus wurden die Fakultäten in ihrer Handlungsfreiheit verletzt: In einigen Fällen begrenzten die Behörden auf unglaubliche Art die Zahl der Studenten, sie machten es unmöglich, sich in ausländischen wissenschaftlichen Zentren zu spezialisieren oder auch nur Kontakte zu diesen Zentren zu unterhalten. Der Erwerb ausländischer Literatur wurde stark eingeschränkt und den Professoren wurde die Möglichkeit verweigert, ihre Forschungen im eigenen Land zu veröffentlichen beziehungsweise das eigene Denken auf internationaler Ebene zu verbreiten. Es gereicht der Universität Erfurt, die in der Wirklichkeit entstanden ist, die den Kommunismus gekannt und erlebt hat, zur Ehre, dass sie sich um die Eingliederung des Instituts für Evangelische Theologie und der Katholisch-Theologischen Fakultät bemüht hat. Sie zeigt auf diese Weise, dass es dem kommunistischen Obskurantismus nicht gelungen ist, die Weitsicht, die Öffnung hin auf die Erforschung der Wahrheit in allen ihren Dimensionen, die Liebe zur Freiheit des Denkens und die Sensibilität für die spirituellen Werte an diesem Ort zu zerstören.


Dennoch sind die zugefügten Wunden schwer zu heilen und nicht immer fällt es leicht, die entzogenen und zerstörten Räume des Handelns wieder herzustellen oder aufzubauen. Auch wenn die Aufgabe nicht leicht ist, bin ich mir dessen sicher, dass die Katholisch-Theologische Fakultät die Universität nicht darin entäuschen wird, ihren tatkräftigen Beitrag zum akademischen und öffentlichen Leben und damit auch für die Kirche vor allem in diesem Teil Deutschlands zu leisten. In diesem Dienst für die Kirche besteht ihr vorzüglicher Auftrag, zumal angesichts der angerichteten und noch lange nicht überwundenen geistlichen Verwüstung.


c. Für mein Grußwort zum heutigen Patronatstag möchte ich mich auf das noch junge Nachsynodale Schreiben Papst Johannes Pauls II Ecclesia in Europa vom 28. Juni 2003 (1) beziehen, das die Frucht der zweiten Sonderversammlung der Bischofssynode für Europa darstellt, die vom 1. bis 23. Oktober 1999 stattgefunden hat.



1. "Verlust des christlichen Gedächtnisses und Erbes?


a. Im Apostolischen Schreiben, das Christus - in der Kirche lebendig - als Quelle der Hoffnung für Europa verkünden will, wird zu Beginn festgestellt, dass die Kirchen in Europa, "oft durch eine Trübung der Hoffnung auf die Probe gestellt sind?. "Die Zeit, in der wir leben, vermittelt mit den ihr eigenen Herausforderungen in der Tat den Anschein des Verlorenseins. Viele Männer und Frauen scheinen desorientiert, unsicher und ohne Hoffnung zu sein, und nicht wenige Christen teilen diesen Gemütszustand? (2).


In dieser Linie hebt der Heilige Vater, unter vielen "besorgniserregende[n] Zeichen, [...] [die] sich zu Beginn des dritten Jahrtausends bedrohlich am Horizont des europäischen Kontinents? zeigen (3), vor allem "den Verlust des christlichen Gedächtnisses und Erbes? hervor, "der begleitet ist von einer Art praktischem Agnostizismus und religiöser Gleichgültigkeit, weshalb viele Europäer den Eindruck erwecken, als lebten sie ohne geistigen Hintergrund und wie Erben, welche die ihnen von der Geschichte übergebene Erbschaft verschleudert haben. Daher ist es nicht allzu verwunderlich, wenn versucht wird, Europa ein Gesicht zu geben, indem man unter Ausschluss seines religiösen Erbes und besonders seiner tief christlichen Seele das Fundament legt für die Rechte der Völker, die Europa bilden, ohne sie auf den Stamm aufzupfropfen, der vom Lebenssaft des Christentums durchströmt wird? (4).


b. Mit dem Verlust des christlichen Gedächtnisses verbunden sieht das Apostolische Schreiben - über die Trübung der Hoffnung hinaus - viele weitere negative Symptome, wie:


- "eine Art Zukunftsangst [...]. Das gemeinhin verbreitete Bild von der Zukunft stellt sich oft als blass und ungewiss heraus. Man hat eher Angst vor der Zukunft, als dass man sie herbeiwünschte. Besorgniserregende Anzeichen dafür sind unter anderem die innere Leere, die viele Menschen peinigt, und der Verlust des Lebenssinnes? (5);


- "eine verbreitete Zersplitterung des Daseins; es überwiegt ein Gefühl der Vereinsamung; Spaltungen und Gegensätze nehmen zu? (6);


- "eine zunehmende Schwächung der Solidarität zwischen den Menschen [...]: viele Menschen, auch wenn es ihnen nicht am materiell Notwendigen fehlt, [fühlen sich] immer einsamer und sich selbst überlassen [...], ohne das Netz einer gefühlsmäßigen Unterstützung? (7).


- der "Versuch, eine Anthropologie ohne Gott und ohne Christus durchzusetzen?. Darin hat, merkt das Apostolische Schreiben an, der Verlust der Hoffnung seinen Grund. "Diese Denkart hat dazu geführt, den Menschen als absoluten Mittelpunkt allen Seins zu betrachten, indem man ihn fälschlicherweise den Platz Gottes einnehmen ließ [...] Das Vergessen Gottes hat zum Niedergang des Menschen geführt. Es wundert daher nicht, dass in diesem Kontext ein großer Freiraum für die Entwicklung des Nihilismus im philosophischen Bereich, des Relativismus im erkenntnistheoretischen und moralischen Bereich, des Pragmatismus und sogar des zynischen Hedonismus in der Gestaltung des Alltagslebens entstanden ist? (8);


- die bereits erwähnten Versuche, "die europäische Kultur losgekoppelt vom Beitrag des Christentums zu präsentieren? und eine neue, "großenteils von den Massenmedien beeinflussten Kultur? entstehen zu lassen, "deren Merkmale und Inhalte oft im Gegensatz zum Evangelium und zur Würde der menschlichen Person stehen. Zu dieser Kultur gehört auch ein immer weiter verbreiteter religiöser Agnostizismus, verbunden mit einem tieferen moralischen und rechtlichen Relativismus? (9).



2. Das Christentum in der Geschichte Europas


Angesichts dieser Trübung der Hoffnung, verursacht durch den Verlust der Erinnerung an das christliche Erbe, unterstreicht das Apostolische Schreiben mit den Synodenvätern einerseits: "Der Mensch kann nicht ohne Hoffnung leben: sein Leben wäre der Bedeutungslosigkeit verschrieben und würde unerträglich? (10).


Andrerseits hebt es hervor: "Europa ist weitläufig und tiefgreifend vom Christentum durchdrungen worden?. Dabei erinnert es mit den Synodenvätern: "In der Gesamtgeschichte Europas stellt das Christentum zweifellos ein zentrales und charakteristisches Element dar [...] Der christliche Glaube hat die Kultur des Kontinents geformt und sich mit seiner Geschichte [...] unlösbar verflochten? (11). Denn durch die Jahrhunderte ist "das geistige Antlitz Europas dank der Mühen großer Missionare, durch das Zeugnis der Heiligen und der Märtyrer und durch das beharrliche Wirken von Mönchen, Ordensleuten und Seelsorgern geformt worden [...]. Aus der biblischen Auffassung vom Menschen hat Europa das Beste seiner humanistischen Kultur entnommen, Inspirationen für seine geistigen und künstlerischen Schöpfungen gewonnen, Rechtsnormen erarbeitet und nicht zuletzt die Würde der Person als Quelle unveräußerlicher Rechte gefördert. Auf diese Weise hat die Kirche als Hüterin des Evangeliums zur Verbreitung und Konsolidierung jener Werte beigetragen, die die europäische Kultur zu einer Weltkultur gemacht haben? (12).



3. Europa Christus und sein Evangelium der Hoffnung verkündigen


Was schlägt das Apostolische Schreiben vor, um den gegenwärtigen Nöten des Kontinents zu begegnen?


Vor allem stellt es fest: "Aus der Synodenversammlung hat sich die eindeutige und begeisterte Gewissheit ergeben, dass die Kirche Europa das kostbarste Gut anzubieten hat, das ihm niemand anderer zu geben vermag: den Glauben an Jesus Christus, Quelle der Hoffnung, die nicht enttäuscht, eine Gabe, die der geistigen und kulturellen Einheit der europäischen Völker zugrunde liegt und die noch heute und in Zukunft einen wesentlichen Beitrag zu ihrer Entwicklung und Integration darstellen kann [...] Die Quelle der Hoffnung für Europa und für die ganze Welt ist Christus? (13).


Das Apostolische Schreiben betont also die Dringlichkeit, "Europa durch die Wiederbelebung der christlichen Wurzeln, in denen es seinen Ursprung hat, bei seinem Aufbau zu helfen? (14). Es geht jedenfalls nicht darum, Europa heute einfachhin auf sein "vorgegebenes christliches Erbe? hinzuweisen; "es muss vielmehr in die Lage versetzt werden, erneut über seine Zukunft zu entscheiden, in der Begegnung mit der Person und Botschaft Jesu Christi? (15). Mit anderen Worten, "Europa benötigt bei der Bewusstwerdung seines geistigen Erbes einen qualitativen Sprung? (16).


Letztlich stellt das gesamte Dokument einen eindringlichen Aufruf an unsere Kirche in Europa zur Umkehr und Bekehrung dar (17), und ist damit ein eindringlicher Appell zu dienen beziehungsweise zu "leben? (18), zu feiern und in besonderer Weise mit erneuter Kraft, frischem Mut und klarer Eindeutigkeit unserem Kontinent Christus und sein Evangelium der Hoffnung zu verkünden und zu bezeugen (19).



Schluss


Diese Ü;berlegungen drängen mich auf ganz natürliche Weise dazu, der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt zu wünschen, durch Studium, Forschung und Lehre immer stärker die tiefen Werte des christlichen kulturellen Vermächtnisses ans Licht zu heben und auf diese Weise beizutragen, mit erneuerter Kraft und Wirksamkeit den Gläubigen und ganz Europa Christus und sein Evangelium der Hoffnung zu verkünden.



Anmerkungen


(1) JOHANNES PAUL II, Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in Europa (Verlautbarungen des Heiligen Stuhls 161, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz), Bonn 2003.


(2) Ebd., Nr. 7a. Vgl. z.B. auch 2c, 4b, 9b, 10b, 95a, 108c.


(3) Ebd., 7a


(4) Ebd., 7b


(5) Ebd., 8a


(6) Ebd., 8b. Vgl. auch 112b.


(7) Ebd., 8c.


(8) Ebd., 9a. Vgl. z.B. auch 3b, 5, 26, 47.


(9) Ebd., 9b. Vgl. z.B. auch 5b, 7b.


(10) Ebd., 10a. Vgl. auch 4b.


(11) Ebd., 24.


(12) Ebd., 25a. Der Verweis auf die christlichen Wurzeln Europas kehrt im Dokument häufig wieder. Vgl. z.B. 9b, 14, 19b-d, 37, 58b,108, 109b, 120c.


(13) Ebd., 18a. Vgl. auch 18b-22, 1c, 6, 10.


(14) Ebd., 25b. Vgl. auch 21a, 109, 110, 114b, 120c.


(15) Ebd., 2b. Siehe 116-121.


(16) Ebd., 120a.


(17) Vgl. ebd., 23, 26-32, 47b.


(18) Vgl. ebd., 83a, den Schlusssatz.


(19) Die Frage ist der eigentliche Gegenstand des zweiten Teils des zweiten Kapitels (Nr. 33-43) und der drei folgenden Kapitel (Nr. 44-105). Vgl. z.B. auch 20b, 21.





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