"Die Stunde ist gekommen"

Jesus sehen und auf ihn hören. Predigt zum 5. Fastensonntag von Pater Maximilian Wagner





Wir durften bereits an den vergangenen Sonntagen den großen Schatz betrachten, den die Heilige Schrift für unser Beten bereithält: Indem sie uns an den Weg Jesu stellt. Indem sie in verschiedenen Texten Impulse für unser Leben mit Gott gibt. Indem sie uns hilft, unser Leben im Gespräch mit Gott zu deuten. Wir lesen die Bibel nicht nur, um einen Ü;berblick darüber zu bekommen, was geschrieben steht und sich irgendwo ereignet hat. Wer die Bibel liest, der lässt sich auf eine liebende Beziehung mit Gott und seinem Wort ein.


1. Lesen mit Wiederholungen und Lücken

Um mit der Bibel zu beten, sollte ich beim Lesen öfter innehalten, den Text ruhig wiederholen und mich fragen, ob diese Botschaft mir auch heute noch etwas sagt. Vielleicht spricht mich der Wortlaut nicht sofort an. Eigentlich will ich gleich weiterlesen, aber ich tue es nicht.

Wenn ich ein besonders leckeres Essen genießen möchte, schlinge ich es nicht hastig hinunter, sondern lasse mir bewusst Zeit, spüre nach, wie mir der besondere Geschmack buchstäblich auf der Zunge zergeht und erfreue mich an diesem einzigartigen Augenblick. Ebenso behutsam sollte ich mit dem Bibelwort umgehen und es gut durchkauen, wiederholend "wiederkäuen" und mir schmecken lassen.

Wie bei der Lektüre eines spannenden Buches stelle ich mir die Szene bildlich vor, versetze mich in sie hinein, suche mir meinen Platz in dieser Situation. So mache ich das Geschehen zu meinem eigenen Erlebnis. Ich lasse mich vom Text persönlich ansprechen und in Frage stellen. Mit all diesen inneren Bewegungen komme ich allmählich mit Gott ins Gespräch und begegne Jesus auf ungeahnte Weise.

Das ist gar nicht so kompliziert, probieren wir es einmal mit einigen Versen des heutigen Evangeliums aus:


2. "Wir möchten Jesus sehen" - eine Grundsehnsucht der Menschen

"Wir möchten Jesus sehen", mit dieser Bitte wenden sich einige Griechen in Jerusalem an die zwei Jünger mit einem griechischen Vornamen, da beide wohl deren Sprache, Kultur und Wunsch sofort verstehen. Diese versuchen gleich eine Brücke zu bauen und leiten ihre Bitte direkt an Jesus weiter.

Was hat die Griechen, Nicht-Juden und "Ungläubige" der damaligen Zeit, bewogen, diesen Wunsch zu äußern? Sind sie nur neugierig und schaulustig? Was erwarten sie sich davon, wenn sie Jesus sehen und näher kennen lernen? Wie wird das ihr Leben verändern?

Das Anliegen, mit dem die besagten Griechen in Jerusalem zu den Aposteln kamen, können wir gut nachvollziehen: "Wir möchten Jesus sehen." Sprechen sie nicht genau das aus, was auch ich oft selber wünsche: Jesus zu sehen, ihm leibhaftig zu begegnen und mit ihm reden zu können? Welche Fragen bewegen mich? Was wollte ich schon immer von ihm wissen und ihm mitteilen? Lassen wir uns wie die Griechen von den beiden Jüngern an Jesus heranführen und schenken wir ihm unser Ohr.

Sehr viel ereignet sich dort nicht, vielmehr hören wir Jesus reden. Da werden wir wenig abgelenkt und können unsere Aufmerksamkeit ganz auf seine Worte richten. Wir werden Zeugen eines inneren Dialogs, den Jesus mit sich selbst führt.


3. Das "Vater unser" als Grundraster und Hilfestellung unseres Betens

Jesus Antwort auf den Wunsch, ihn sehen zu wollen, bleibt letztlich offen und klingt zunächst rätselhaft: "Die Stunde ist gekommen, da der Menschensohn verherrlicht wird." Jesus spricht von seiner nahen Sterbestunde und erweckt damit den Eindruck, die Griechen gar nicht an sich heran zu lassen. Doch in Wirklichkeit ermöglicht seine Antwort mehr, als dass sie ihn nur sehen können. Sie eröffnet ihnen einen Blick in sein Herz.

Das Leben Jesu suchte immer den lebendigen Bezug zum himmlischen Vater. Gerne zog er sich zurück, um zu Gott, seinem Vater, zu beten. Er horchte auf das, was Gott mit ihm vorhatte, und vertraute sich ihm in jeder Beziehung an. Nicht sein Wille sollte geschehen, sondern der Wille seines Vaters im Himmel. Das "Vater unser" hat er wohl gerne als Basistext genommen und die Bitten entsprechend der jeweiligen Situation ergänzt. Deshalb hat er es uns als Gebetsschatz besonders ans Herz gelegt, damit wir ähnlich kreativ damit umgehen.


4. Das Bild vom Weizenkorn als Sinnbild der Verwandlung

Jesus war bereit, für die Erlösung der Menschen bis zum Äußersten zu gehen, bis zur Hingabe seines Lebens. So können wir auch verstehen, warum es im Evangelium weiter heißt: "Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht." Das ist ein Bild, das einerseits selbstverständlich ist, andererseits aber auch widersprüchlich bleibt. Natürlich spielen sich Wachstumsprozesse in der Natur und in unserem Leben so ab. Der Widerspruch besteht darin, dass wir das Leben erst gewinnen, wenn wir den Tod auf uns nehmen. Erst wenn wir fähig sind, uns selbst aufzugeben und alles zu verlieren, erst dann können wir das neue Leben des Auferstandenen erfahren und empfangen, das größer ist als wir.

Wie geht es mir mit diesem Bildwort vom Weizenkorn? Ist es mir vertraut? Was stört mich daran? Welche Gefühle habe ich, wenn ich mir vorstelle, das Weizenkorn zu sein und an meinen eigenen Tod erinnert werde?

Das Johannesevangelium birgt in jedem Satz, in jedem Wort tiefe Erfahrungen. Es lohnt sich, es immer wieder zur Hand zu nehmen, auch wenn mir die ungewohnte Sprache und eine ganz andere Kultur den Zugang nicht immer ganz leicht machen. Wenn ich mir ein Bibelwort zu Herzen nehme, wird es auch mir heute etwas sagen.

Was gibt es zu sehen? Allerlei, bei der Meditation eines biblischen Textes kommt es vor allem darauf an, dass ich etwas entdecke, was mich persönlich anspricht und bewegt, und es in meinem Herzen erwäge.

Das "Vater unser"-Gebet will eine Stütze sein, ins "Beten mit der Bibel" hinein zu finden und meine persönlichen Sehnsüchte und Fragen vor Gott zur Sprache zu bringen. Nur Mut, nehmen Sie sich die Zeit, lassen Sie sich vom Bibelwort an die Hand nehmen und überlassen Sie Gott die Führung dabei.

Wer etwas Besonderes sehen will, muss auf das blicken, was andere nicht beachten, wie beim bekannten Kinderspiel: "Ich seh‘ etwas, das du nicht siehst, und das ist ...". - Jesus am Kreuz: Es ist die Konsequenz seines Hörens auf Gott. Es nimmt uns in die Worte des Vaterunsers hinein - in das Vertrauen im Hören auf sein Wort, den Weg zu bestehen.


Quelle: Predigthilfe des Erfurter Seelsorgeamtes für die Fastenzeit 2012. Pater Maximilian Wagner OFM ist Guardian des Franziskanerklosters auf dem Hülfensberg (Eichsfeld).