Die Kirchen Europas vor den Herausforderungen unserer Zeit

Vortrag von Bischof Joachim Wanke an der Universität Krakau

Wenige Tage vor dem EU-Beitritt Polens besucht der Erfurter Bischof Joachim Wanke vom 26. bis 29. April 2004 die Region Kleinpolen im Süden des Landes. Im Folgenden ist der Vortrag dokumentiert, den Bischof Wanke am 27. April 2004 an der Universität Krakau gehalten hat.


Dieser Vortrag will auf zwei Fragestellungen eingehen. Zum einen will er das in den Blick nehmen, was uns Christen angesichts unserer Zeitsituation herausfordert - zum anderen soll der europäische, besonders der osteuropäische Horizont mit einbezogen werden. Beide Stichworte: christlicher Auftrag heute und Europa als geweitete Bühne gemeinsamen christlichen Agierens böten hinreichend Stoff für eine ganze Vorlesungsreihe! In der Notwendigkeit, sich auf eine Vortragsstunde zu beschränken, liegt freilich auch eine Chance: In der Konzentration auf das Wichtigste könnte das Ganze dessen erkennbar werden, was Gebot der gegenwärtigen Stunde für die Christenheit in Europa ist. So sind meine Ü;berlegungen so etwas wie ein Versuch, "das Ganze im Fragment" zu sagen (um an ein Wort von Hans Urs von Balthasar anzuknüpfen) (1).


Für die Menschheit, die ihren Weg in einer sich immer schneller und tiefgreifender verändernden Welt sucht, stellen sich derzeit große Herausforderungen. Es geht um die Mobilisierung jener Kräfte, die zur Sicherung einer humanen Zukunft für diese und für die kommenden Generationen notwendig sind. Zu diesen Kräften gehört ohne Zweifel unser christlicher Glaube. Vor rund 2000 Jahren hat er durch Missionare wie Paulus, Silas und andere uns unbekannte Frauen und Männer zum ersten Mal Europa berührt. Was kann der christliche Glaube an Hilfen geben angesichts der Erwartungen und Hoffnungen, aber auch der Unsicherheiten und Ängste, die sich heute für Menschen auf unserem Kontinent mit dem Gedanken an die Zukunft verbinden?


Diese Frage gewinnt zusätzlich eine besondere Aktualität durch die politischen Veränderungen in Europa vor einem Jahrzehnt. Diese Wende wird in wenigen Tagen am 1. Mai einen ersten Abschluss finden im Beitritt zehn weiterer, vor allem osteuropäischer Staaten in die Europäische Union, darunter auch Polen. Die dramatischen Ereignisse der Jahre 1989 und 1990 in Mittel- und Osteuropa, der Zusammenbruch der alten totalitären Systeme kommunistischer Prägung und die Erfahrung einer neuen Offenheit und Freiheit für viele Völker samt ihren oft so zwiespältigen Folgen haben Erwartungen geweckt, die wohl vor 1989 zumindest im Osten Europas so nicht da waren. War vor diesem "Wende-Datum" Europa scheinbar in der Konfrontation der alten Machtblöcke wie unter Eis erstarrt, so zeigt sich jetzt, dass die Geschichte auch unseres Kontinents auf überraschende Weise wieder offen ist. Das ist sicherlich ein Grund zum Staunen und - bei allem Wissen um die anstehenden Probleme - auch ein Grund zur Freude.


In diese Freude mischt sich in der Tat auch ein Erschrecken über die Abgründigkeit dieser neuen Freiheit, die beispielsweise den Völkern des Balkans Krieg und Tod beschert hat. Zudem eröffnet sich soeben durch den terroristischen Angriff auf die USA am 11. September 2001 der Horizont einer neuen, in ihrem Umfang noch unbekannten Bedrohung der Welt. Eine Episode beim Besuch des Heiligen Vaters in Berlin 1996 hat für mich diese Doppelbödigkeit der Freiheit gleichsam symbolisch auf den Punkt gebracht. Bei seinem Gang durch das Brandenburger Tor, dessen Öffnung nicht zuletzt dem beharrlichen Wirken dieses Mannes mitzuverdanken ist, hörte ich von ferne die Protestpfiffe von Menschen, die sich durch die Präsenz des Papstes in ihrem Verständnis von Freiheit, Freiheit als Bindungslosigkeit, hinterfragt fühlten.


Auf welche Freiheit gehen wir in Europa zu: auf jene Freiheit, die damals die Berliner Subkultur in Szene setzte, oder auf die Freiheit, die die Heilige Schrift den Gotteskindern zuspricht, eine Freiheit in der Selbstbindung an Gottes Gebot und Willen? Europas Geschichte ist wieder offen. Kann und wird das Christentum in ihr eine Rolle spielen? Und worin wird diese bestehen? Ich versuche, in dreifacher Weise zu antworten,



1. Herausforderung für die Christen Europas:

die Kraft zu einem authentischen und entschiedenen Gotteszeugnis aufbringen


Ich erinnere mich an einen Werbespruch, den ich einmal im Frankfurter Flughafengebäude gelesen habe. Auf der Absperrwand einer Baustelle prangte ein Plakat mit dem Slogan: "Damit für Sie der Himmel offen bleibt, haben wir auf Erden viel zu tun: Ihre Lufthansa." In der Tat - die Christenheit hat viel zu tun, damit über Europa der Himmel Gottes offen bleibt. Aber die Frage ist eben: Wie soll das geschehen? Kann es und wird es so etwas geben wie eine neue missionarische "Unbefangenheit"?


Um nicht das belastete Wort "Mission" zu sehr zu strapazieren, gebrauche ich gern diese Formulierung: Christen können durch ihren Glauben "Horizonterweiterung" bewerkstelligen. Dieses Stichwort soll verdeutlichen, worum es uns Christen zu gehen hat: immer neu - und gerade in dieser geistigen Stunde des Aufbruchs Europas zu einer neuen politischen Einheit - den Gotteshorizont einzubringen, innerhalb dessen dann auch von vielen anderen Dingen, vom EURO und von europäischer Sicherheitspolitik, von EU-Erweiterung und von friedenssichernden Maßnahmen geredet werden kann und muss, aber eben hoffentlich anders, als wenn dieser Horizont uns völlig versinken würde.


Unsere gegenwärtige historische Stunde ist durchaus offen für eine Neu-Anknüpfung an die alte Botschaft des Evangeliums. Säkularisation und Aufklärung gelten zwar immer noch als Totengräber des christlichen Glaubens, aber es hat den Anschein, als ob das Christentum sich gegenüber diesen geistigen Mächten in einer günstigeren Position befindet als früher, - ich zitiere den katholischen Theologen Eugen Biser - "im Verhältnis zum Säkularismus, weil diesem mit der Krise des Fortschrittsglaubens buchstäblich das Rückgrat gebrochen ist; aber auch im Verhältnis zur Aufklärung, weil die Einsicht um sich greift, dass diese - bei aller Polemik - keineswegs als eine Ausgeburt der Hölle zu gelten hat, sondern als eine, wenngleich kritische Folgeerscheinung des Glaubens, die wesentliche Motive der Jesusbotschaft wie Freiheit, Solidarität und Toleranz in Profanbereiche eindringen ließ, die nur auf diesem Umweg erreicht werden konnten." (2)


"Horizonterweiterer" - das wäre nicht der schlechteste Name für Christen im Europa des anbrechenden neuen Jahrtausends. Dazu muss sich der christliche Glaube freilich seiner eigenen Identität und seiner sinnstiftenden Kraft neu bewusst werden.


Hier sind die drei großen Kirchen des europäischen Kontinents, alle Christen Europas - Katholiken, Protestanten und Orthodoxe - gleichermaßen angesprochen. Die politischen Umwälzungen im Osten Europas lassen wieder den ganzen europäischen Kontinent als geistige und kulturelle Einheit in den Blick treten. Die Bemühungen um die europäische Einheit gehen in den kommenden Jahren in eine entscheidende Phase. Bekannt ist das Wort von Jacques Delors, der Anfang der 90er Jahre bei einer Begegnung mit Kirchenvertretern gesagt hat, man müsse dem kommenden geeinten Europa eine Seele geben. Wenn dies nicht im nächsten Jahrzehnt gelinge, könne der gesamte Integrationsprozess fehlschlagen.


Natürlich wissen wir, dass es keine Restauration eines christlichen Europas im Sinne des Mittelalters geben kann, von der noch der Romantiker Novalis im vorigen Jahrhundert träumte. Aber das christliche Europa der Vergangenheit ist das eine - das Evangelium Jesu Christi und seine immer neue Anziehungskraft ist das andere. Die Völker Osteuropas sind auf der Suche nach neuen Hoffnungsträgern. Die über hundertjährige marxistische Vision einer vollkommenen, völlig befriedeten Gesellschaft ohne jede religiöse Transzendenz ist zusammengebrochen. Die letzte Hochburg eines atheistischen Staatswesens auf marxistischer Grundlage, Albanien, ist gefallen. Dabei wurde exemplarisch offenbar, wie ein Volk im Namen der Religionslosigkeit zugrunde gerichtet werden kann.


Jetzt treten wieder die im Osten Europas unterdrückten, aber doch ständig vorhandenen religiösen Kräfte neu auf den Plan. Das geschieht sicherlich unter großen Erschütterungen. Es wird noch einen längeren Prozess der Selbstbesinnung, auch der Selbstreinigung der Kirchen im Osten Europas brauchen, ehe das zum Tragen kommen kann, was ich mir erhoffe: dass der christliche Glaube wieder kultur- und gesellschaftsprägende Kraft gewinnt.


So wird jetzt alles darauf ankommen, das Evangelium so zu präsentieren, dass wirklich dessen Substanz, nämlich der Gott Jesu Christi selbst in den Blick der Völker Europas treten kann. Nicht die Selbstdarstellung der Kirchen ist jetzt gefragt, sondern die "Darstellung" Gottes. "Evangelisierung", neuer Mut zur Verkündigung des Gottes, wie er sich uns in Jesus Christus offenbart hat, ist in der Tat eine Aufgabe für Ost und West. Der Osten könnte auf Dauer dem alten und glaubensschwachen westlichen Europa dafür neue Impulse vermitteln.


Es darf nicht unterschätzt werden, was christlicher Glaube in Osteuropa, aber auch bei uns in Ostdeutschland in der Vergangenheit zur Resistenz der Menschen und der gesellschaftlichen Substrukturen gegenüber den totalitären Ansprüchen einer staatstragenden Ideologie beigetragen hat. Solch innerer Widerstand war nach außen hin nicht sonderlich spektakulär und medienwirksam, aber er hat zu einer aus der Mitte des Evangeliums kommenden Hinwendung zur Wahrheit, zur Gerechtigkeit und neuen Menschlichkeit verholfen. Der Glaube, der sich am Evangelium Jesu Christi entzündet, hält den Himmel offen. Er misstraut nahezu instinkthaft allen Versuchen, die angeblich vollkommene Gesellschaft hier schon auf Erden herbeizuzwingen.


Auf dem Hintergrund dieser Erfahrung der osteuropäischen Länder müsste in der gegenwärtigen Situation die christliche Verkündigung neu ansetzen. Das hätte auch Bedeutung für das westliche Europa. Denn in analoger Weise gelten ähnliche Vorbehalte des Glaubens auch gegenüber den Lebensmaximen der westlichen Gesellschaft, die nur auf anderen Feldern einen ebenso horizontal-weltimmanent ausgerichteten Perfektionismus ansteuert wie früher die Länder des Staatssozialismus. Sicher, die Zivilgesellschaft des Westens weiß um die Bedeutung der bürgerlichen Freiheit - aber sie muss sich auch die Kraft erhalten, diese Freiheit zu bewahren, sie nicht pervertieren zu lassen. Wir sind, so meine ich, dabei, im westlichen Europa an einem Ü;bermaß an Freiheit zu ersticken. Ob das daran liegt, dass uns die Visionen ausgegangen sind, letztlich die Vision vom Reich Gottes?


Die christlichen Kirchen, die die Vision von der "neuen Erde und dem neuen Himmel", von der das Evangelium spricht, über die Generationen hinweg zu bezeugen haben, werden darum beharrlich die geistigen und religiös-christlichen Wurzeln Europas ins Bewusstsein der Völker heben müssen. Es braucht nicht viele Worte, um die weitreichende Bedeutung des christlichen Glaubens etwa für die geistige Einheit unseres Kontinents aufzuweisen, aber gleichzeitig auch für dessen regionale Vielfalt, von der ein künftiges Europa profitieren muss. Für das Land Thüringen, aus dem ich komme, sind beispielsweise der Angelsachse Winfried Bonifatius und die Ungarin Elisabeth Glaubenszeugen von europäischem Zuschnitt. Aus Thüringen kam die heilige Radegunde, die als Gefangene ins Frankenreich verschleppt worden war, wo sie in Poitiers bis heute als Heilige der Versöhnung und der Nächstenliebe verehrt wird. Aber diese und andere Glaubenszeugen illustrieren auch das weitgespannte kulturelle Spektrum, das der Glaube in spannungsvoller Einheit zu bewahren weiß.


Freilich, der christliche Glaube war nie als historische Reminiszenz geschichtlich wirksam. Er entfaltet nur dort seine weltgestaltende Kraft, wo er von Einzelnen und in Gruppen überzeugend gelebt wird, bei uns und auch in den anderen europäischen Ortskirchen. Darum ist der wichtigste Beitrag, den Christen für die Evangelisierung Europas leisten können, ein ganzheitlich gelebter Gottesglaube und ein zeichenhaftes Leben in der Nachfolge Christi. Durch ein solches Lebenszeugnis öffnen sich die Quellen, aus denen Kräfte der Erneuerung und der inneren Einigung erwachsen können, also jene "Seele" Europas, von der einst Jacques Delors sprach. Die Kirchen und alle wachen Christen müssen vereint allen Versuchen widerstehen, den Gottesgedanken aus dem geistigen Lebensraum Europas verdrängen zu wollen. Vermutlich wird uns die sich verstärkende Auseinandersetzung mit dem Islam dabei helfen.


Auf zwei Abgrenzungen möchte ich eigens aufmerksam machen: Das Christentum unseres Kontinents sollte nicht den emanzipatorischen Grundzug der europäischen Moderne verketzern, aber es sollte auch nicht die Fehlformen spätaufklärerischen Denkens in ihren folgenschweren, menschenfeindlichen Auswirkungen schweigend übersehen. Weder innere Emigration noch falsche Anpassung an den Zeitgeist sind der Weg des Christentums in Europa. Gefragt ist ein demütiges christliches Selbstbewusstsein, eine sich aus den eigenen Wurzeln speisende christliche Identität, die nicht am Zeitgeist Maß nimmt, sondern umgekehrt alles an Christus misst, oder wie Paulus sagt: "... alles Denken gefangen nimmt, so dass es Christus gehorcht" (2 Kor 10,5).


In naher Zukunft werden sich verstärkt sowohl fundamentalistisch ausgerichtete Lösungen für die großen Weltprobleme anbieten als auch - was ich noch mehr fürchte - nihilistisch-zynische, die der Menschheit alle Zukunft abschreiben. Ich weise nur auf die jüngst diskutierten Thesen des Philosophen Sloterdijk hin, der das endgültige Versagen des Christentums bei dem Versuch der Menschheitsverbesserung konstatiert und sich in verräterischer Sprache für Menschenzüchtung als weltkultureller Alternative ausspricht. Gegen beide Extreme: Fundamentalismus und Zynismus hat unser Glaube die Kraft der christlichen Verkündigung zu setzen, die dem Menschen gerade deswegen Zukunft zuspricht, weil er sich diese nicht selbst erobern muss. (In diesem gedanklichen Kontext hat übrigens die derzeit wieder neuentdeckte paulinische Rechtfertigungsbotschaft ihre höchst aktuelle Bedeutung). Das alte und immer neue Evangelium Jesu Christi dem Europa des anbrechenden neuen Jahrtausends zu vermitteln, wird die größte und bedeutendste Herausforderung des Christentums sein.



2. Herausforderung: das Leben als gute Schöpfungsgabe verteidigen.


Damit spreche ich an, was mir angesichts der mannigfachen Zeichen des Todes und des beschädigten Lebens in unseren europäischen Gesellschaften ein wichtiges Anliegen ist: Wir Christen müssten die Kernschar einer großen Koalition für das Leben sein, und zwar eines Bündnisses, das weit über die Grenzen unserer jeweiligen Kirchen hinausginge und alle Menschen guten Willens, auch nichtchristliche Zeitgenossen einschlösse.


Es braucht nicht viele Worte, um die Rede von Europa als einer Hochburg des aufgeklärten Humanismus als große Selbsttäuschung zu entlarven. Man muss dazu nur an die Opfer der totalitären Systeme in Europa im 20. Jahrhundert erinnern. Aber auch in unserer gegenwärtigen Gesellschaft ist eine zunehmende Entwertung des Lebens zu beobachten, des fremden Lebens, aber auch des eigenen Lebens. Ich weise nur auf einige Indizien hin: Wir tolerieren die Toten und Verletzten im Straßenverkehr; die Leben zerstörenden Suchtabhängigkeiten nehmen zu; Lebensgefährdung wird um ihrer selbst willen als Nervenkitzel gesucht; die Abtreibungspraxis wird akzeptiert, über die Möglichkeit der Euthanasie offen diskutiert, und zum Teil wird sie schon praktiziert; menschliche Nöte und Grenzerfahrungen werden wie im sogenannten Reality-TV vermarktet; brutale Gewalt ist zunehmend mitten unter uns allgegenwärtig. Das Menschenbild unserer Fernsehreklame macht es deutlich: Lebensqualität wird gemessen an den Konsum- und Genussmöglichkeiten. Menschliches Leben auf der Schattenseite gerät zunehmend unter Legitimitätsdruck: "Warum bist du nicht stark und gesund? Vielleicht bist du gar selbst daran schuld?" Für manche Mitbürger wird diese Angst schon sehr konkret, nicht mehr erwünscht, nicht mehr daseinsberechtigt zu sein. Eine Verlängerung dieser Liste von "Todeszeichen" in unserer Gesellschaft wäre leicht möglich.


Für uns Christen sollten hier die Alarmglocken schrillen. Das Leben ist für den Glaubenden eine Gabe des Schöpfers, und zwar eine grundsätzlich gute Gabe, unabhängig vom Leistungsvermögen oder der mehr oder weniger gelungenen Selbstverwirklichung des jeweiligen Geschöpfes. Der gläubige Mensch kann dem Leben zustimmen, weil es für ihn aus Gottes Hand kommt. Die Annahme des Lebens - auch mit seinen Schatten und letztendlich mit seiner Todesgrenze - ist die Grund-Tat des Menschen.


Albert Görres, der Münchner Arzt und Psychotherapeut, hat dies einmal eindrücklich beschrieben, als er vom Sterben einer noch jungen Frau und Mutter erzählt. Der Mann steht fassungslos am Sterbebett seiner Frau und stammelt nur: "Ich kann Gott nicht verstehen, dass er dies zulässt!" Und die Frau antwortet darauf: "Ja, verstehen kann ich ihn auch nicht, aber ich stimme ihm zu!" Glaube ist Zustimmung, er ist letzte Bejahung der Wirklichkeit, wie sie von Gott uns gesetzt ist. Viele kulturelle Phänomene in unserer Gegenwart könnte man als Auflehnung gegen die volle Wirklichkeit unseres Lebens deuten, also als eine Haltung, die sagt: "Wenn das Leben so ist, wie es ist bzw. wie ich es erfahre, dann ist es wertlos. Ich habe ein Recht darauf, es wegzuwerfen, die Zustimmung zu verweigern."


Was können Christen hier für Zeichen setzen? Die christlichen Kirchen Deutschlands hatten 1989 ein gemeinsames Wort verfasst: "Gott ist ein Freund des Lebens", ein Wort, das auch zu heiklen Fragen des Lebensschutzes, die zwischen den Kirchen oft kontrovers diskutiert werden, einen erstaunlichen Konsens formuliert hatte. In die breitere Öffentlichkeit hinein soll die neuerdings ökumenisch getragene "Woche für das Leben" wirken, die mit wechselnden Themen die Aufmerksamkeit auf das Leben als Gabe Gottes lenken will.


Aber vielleicht sind wir Christen ganz anders gefordert, nicht durch das Verfassen von Denkschriften und die Organisation von Lebensschutzwochen. Wir sind, so meine ich, gefordert mit der Tat unseres eigenen Lebens und dem Zeugnis, das nicht allein in Worten besteht. Und das wird von unseren Kirchen, von den Menschen in ihr dort geleistet, wo sie das Leben konkret stützen, besonders das behinderte, kranke, alte Leben - oder eben auch das Leben im Mutterschoß. Das Leben wird da gestützt, wo es gefeiert wird, z. B. im Gottesdienst, in den Sakramenten, in der Tat der Zuwendung und des Erbarmens, die aus Verzweiflung reißt, die Sinn stiftet und Menschen angesichts der Bedrängnisse des Alltags neu stabilisiert. Dort, wo Christen in Menschen, besonders junge Menschen, Vertrauen setzen, lassen sie das Leben als gute Gabe Gottes aufleuchten. Denn Leben ist mehr als das jetzt Verfügbare und Sichtbare. Leben ist immer auch Verheißung. Das gilt schon von einem Zuspruch von Mensch zu Mensch, wenn einer dem anderen z. B. sagt: "Ich glaube an dich! Du schaffst das! Du kannst das, ich kenne dich doch!" Ein solches Wort, von einem guten Menschen mir gesagt, wirkt manchmal Wunder. Umso mehr gilt das von dem Zuspruch, der uns von Gott in der Gestalt Jesu Christi gegeben wird.


Sind uns die Verheißungen des Glaubens abhanden gekommen? Ist das Vertrauen geschwunden, dass das Böse nicht doch überwindbar ist? Ich gebe zu: Die täglichen Nachrichten, zuletzt die Schreckensbilder von den Terroranschlägen in den USA und Spanien, überschütten uns mit dem Elend und der Bosheit der Welt. So lassen wir uns von den Extremsituationen fixieren und vergessen häufig dabei, dass das "normale" Böse meist aus Gedankenlosigkeit, aus Schwäche, aus einer fatalistischen Einstellung heraus geschieht: "So ist das nun einmal, da kann man nichts machen!" Eine solche Haltung produziert meines Erachtens allmählich Gleichgültigkeit, ja Zynismus. Von dieser geistigen Haltung in unserer Gesellschaft, von der ich meine, dass sie unter uns am Wachsen ist, habe ich die größte Sorge. Es gibt viele Initiativen innerhalb und außerhalb unserer Kirchen, die meinen: Da kann man doch etwas machen! Zudem: Die Seligpreisungen der Bergpredigt werden nicht nur von Christen gelebt! Das ist für mich ein Hoffnungszeichen. Und darum werden Koalitionen möglich sein, Bündnisse all derer, die dem Leben trauen, die sich schützend vor das Leben stellen. Wir Christen sollten da an vorderster Stelle zu finden sein.



3. Herausforderung für die Christen Europas:

Versöhnungsarbeit leisten inmitten eines noch immer unversöhnten Kontinents


Ich möchte meine Antwort auf die Frage, was uns als Christenheit in Europa aufgetragen ist, aus der Sicht unseres so lange geteilten, nun aber wiedervereinigten Heimatlandes geben. Wege der Versöhnung gehen und zur Versöhnung einladen - das ist gerade auch für uns Deutsche in der schwierigen Phase der noch zu vollendenden inneren Einheit Deutschlands und im Blick auf seine neue Rolle in Europa und in der Welt von morgen ein höchst aktuelles Thema.


Der Apostel Paulus zentriert das, was er unter dem Evangelium Jesu Christi versteht, im Römerbrief und im 2. Korintherbrief auf das Stichwort Versöhnung hin: "Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete und uns das Wort von der Versöhnung (zur Verkündigung) anvertraute. Wir sind also Gesandte an Christi statt; und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen!" (2 Kor 5,19f).


Es mag verwegen erscheinen, diese Versöhnung Gottes, gnadenhaft dem Sünder zugesprochen, in die kleine Alltagsmünze unserer aktuellen Tagesprobleme umzusetzen. Aber ich meine, genau das ist auch die Intention des bekannten Gleichnisses Jesu vom unbarmherzigen Knecht (vgl. Mt 18,23-35). Dort wird der große, unauslotbare Schulderlass Gottes in Beziehung gesetzt zu den kleinen Schulden, die wir uns untereinander aufrechnen - bis hin zu der furchtbaren Möglichkeit, dass wir durch ein Versagen in diesen scheinbar unbedeutenden Versöhnungstaten uns Gottes Versöhnung verscherzen.


Was Christen für das Europa von morgen beitragen können, ist dies: Anstifter zu sein zu Taten der Versöhnung. Wir Glaubende haben als mit Gott Versöhnte gleichsam den Rücken frei. Wir können ohne Angst und krankhaften Zwang zur Rückversicherung anderen die Hand zur Versöhnung reichen.


Und zwar näherhin:

(1) zu einer Versöhnung zwischen Ost und West, konkret in Deutschland selbst.


Ich freue mich, wenn ich höre, dass gläubige Christen in unseren Gemeinden dazu beitragen, die Fremdheit, ja den Unwillen und das Misstrauen zwischen Ost und West durch ganz persönliche Zeichen der Verständigung und des Brückenschlags zu überwinden. Das ist gerade jetzt, in der Phase der abgekühlten Freude über die gewonnene Einheit und der Phase der Ernüchterung angesichts anstehender Sparmaßnahmen, wichtig. Wenn jetzt die Stammtischparolen und die Sprüche der politischen Extremisten in unserem Land - und nicht nur dort - das Ohr der Mehrheit gewinnen, wäre das verhängnisvoll. Es braucht jetzt Sachverstand und differenziertes Urteilsvermögen, um in den anstehenden Fragen der Ausgestaltung der Einheit - politisch, wirtschaftlich, kulturell - wirklich Zukunft zu gewinnen und nicht Zukunft zu verbauen. Aber noch mehr braucht es Menschen, die bereit sind, zwischen Ost und West mit Vertrauen aufeinander zuzugehen, die nicht mit Ü;berheblichkeit ihre jeweils eigenen Erfahrungen als letzte Lebensweisheit ansehen, sondern die bereit sind, voneinander und miteinander zu lernen und notfalls gemeinsam neue Wege zu gehen. Hier leisten gerade gläubige Christen wichtige Dienste für das Zusammenwachsen unseres Landes.


Ich wiederhole hier, was ich schon mehrfach öffentlich zum Ausdruck gebracht habe, dass ich dankbar bin für den Einsatz vieler oftmals christlich motivierter Frauen und Männer in Politik, Verwaltung, Justiz, Schule, Armee, Wirtschaft aus der alten Bundesrepublik bei uns im Osten, in den neuen Bundesländern. Sicher, es mag auch den einen oder anderen geben, der nicht ganz selbstlos den Weg in den Osten gefunden hat. Doch diskreditiert das nicht den Einsatz der vielen, die uns solidarisch helfen, aus den Problemen und Belastungen der Vergangenheit herauszukommen und zusammen mit uns einen Neuanfang zu machen. Als Versöhnte versöhnt miteinander umgehen - trotz des politischen Meinungsstreits, trotz unterschiedlicher Prägung durch die jeweiligen Gesellschaftssysteme, trotz des Generationen- und Geschlechterkonflikts, das ist in der Tat eine Haltung, an der Christen sich in allen Lagern und gesellschaftlichen Gruppierungen gegenseitig erkennen sollten.


(2) Zur Versöhnung einladen und um Versöhnung bitten - zu unseren Nachbarvölkern hin, besonders nach dem Osten -, das sollte uns Christen herausfordern.


In der früheren Bundesrepublik ist es gelungen, die alte Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich zu beenden und ein neues, freundschaftliches Miteinander der beiden Völker zu beginnen. Wir im Osten müssen diese Versöhnungstat noch nachträglich ratifizieren und zusätzlich das nachholen, was unser altes politisches System trotz seiner ideologischen Freundschaftsfloskeln nicht geleistet hat: die Versöhnung der Deutschen mit den Polen, den Tschechen und Slowaken, den Russen. Ich freue mich sehr über die intensiven Beziehungen des Freistaates Thüringen mit "Kleinpolen", der Wojewodschaft Krakow. Schon vor der Wende hatte unsere Theologische Hochschule in Erfurt gute Kontakte zur Katholischen Universität Lublin. Die Wallfahrt nach Tschenstochau zog immer auch junge deutsche Pilger an. Zu Ungarn hin bestand gottlob selbst in den DDR-Jahrzehnten in der Breite unserer Bevölkerung eine echte freundschaftliche Verbundenheit. Zudem hat die Öffnung der Grenzen 1989 den Ungarn bei uns noch größere Sympathiewerte eingebracht!


Dennoch: Es gilt im Blick auf Offenheit für Fremde bei uns noch viel zu tun. Die Exzesse von Fremdenfeindlichkeit in unserem Land haben uns alle (gottlob!) aufgeschreckt. Wir sollten uns nicht von diesen Taten entmutigen lassen, mit Beharrlichkeit und Geduld wirkliche Verständigung mit unseren Nachbarvölkern anzustreben. Ich bin überzeugt, dass in der Breite unserer Bevölkerung die Bereitschaft dafür vorhanden ist. Gedankenlosigkeit, Unkenntnis (z. B. geschichtlicher Zusammenhänge) und zum Teil wieder der schlimme Fatalismus, diese Haltung, die sagt: "Da kann man ja doch nichts machen!" sind auch hier die ärgsten Feinde einer echten Verständigung und Versöhnung.


Kardinal Franz König hatte noch kurz vor seinem Tode zu unserem Thema einen bemerkenswerten Aufsatz geschrieben. Darin führte er - aus der Sicht Österreichs formuliert - Folgendes aus: "Westeuropa ist nicht Europa, sondern nur ein Teil und kann nicht durch Geld und wirtschaftliche Dominanz allein den Weg Europas bestimmen. Der Wunsch und der Wille der osteuropäischen Staatengruppe, in die Europäische Union aufgenommen zu werden, ist für die Zukunft Europas von großer Wichtigkeit. Wenn daher in Westeuropa die Finanzminister allein entscheiden und die Bedingungen für die Aufnahme vorschreiben, so kann das eine tiefe Enttäuschung und Abkehr Osteuropas von Europa fördern. Bei allem Verständnis für die dadurch entstehenden Probleme - gerade für die einfachen, oft hart arbeitenden Menschen im Westen - dürfen wir nicht vergessen, dass erst die "Europäisierung" des ganzen Kontinents, um mit Johannes Paul II. zu sprechen, allen Menschen, im Osten und Westen, zugute kommt. Die Geschichte Zentraleuropas ist noch immer eine Kraft, die Staaten und Nationen in der Mitte Europas in besonderer Weise verbindet." (3)


Manchmal wird darüber geklagt, dass die jungen Leute in unseren Gemeinden so uninteressiert am Gemeindeleben und religiös so wenig ansprechbar seien. Meine Erfahrung ist, dass unsere Jugend dort ganz sensibilisiert ist, wo es um dieses Werk der Versöhnung zwischen den Völkern geht: ob das nun konkret Rumänienhilfe oder Sorge um Tschernobyl-Kinder oder Mitarbeit bei der Aktion Sühnezeichen ist. Und auf dem Jakobus-Pilgerpfad nach Santiago oder zu den Taiz?-Brüdern nach Frankreich gehen sie auch nicht nur aus reiner Abenteuerlust. 2005 haben wir die Freude, den Hl. Vater zum Weltjugendtag in Köln zu begrüßen. Dort wird sich wieder zeigen, wie begeisterungsfähig junge Leute für das Evangelium Jesu Christi sind. Junge Leute suchen bei solchen Ereignissen das, was sie vielleicht in der gutbürgerlichen Behaglichkeit unserer Pfarrgemeinden vermissen: dass wir Christenleute am meisten Grund haben sollten, uns über die "Buntheit", die Verschiedenartigkeit des Gottesvolkes in allen Völkern zu freuen. "Alle Völker, preiset den Herrn!" - dieses Psalmwort in unseren Gottesdiensten nehmen junge Leute - Gott sei Dank - erfreulich ernst. Sie werden - so hoffe ich - bald auch lernen, wieder andere Aussagen unseres Glaubens ernst zu nehmen.


(3) Und schließlich: Versöhnt miteinander umgehen zwischen den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften.


Das ist ein Dauerthema für uns Christen seit den Tagen der Apostel und Kirchenväter, die sich mit den Judaisten und Gnosisanhängern auseinandersetzen mussten, bis zu den Zeiten der Reformatoren hin, die nicht nur mit den Altgläubigen, sondern auch mit den Schwärmern und Enthusiasten ihre Probleme hatten, bis hin zur Gegenwart, in der das corpus christianorum, die Christenheit mehr einem Flickenteppich ähnelt als dem einen, ungeteilten Gewand Jesu Christi. Wir dürfen uns nicht mit den Spaltungen und Sonderkirchen abfinden getreu dem Motto: Die Vielzahl der Kirchen steigert die Ü;berlebenschancen des Christentums. Man hört manchmal solche Theorien, auch unter Theologen. Das mag seine soziologischen Vernunftsgründe haben. Eine Beruhigung für wirkliche Jünger Jesu Christi kann eine solche Auskunft nicht sein. Darum ist die Einheit der Kirche Jesu Christi ein Thema, das uns Christen im Europa von morgen neu und vertieft bewegen muss.


Deutschland ist vielleicht mehr als andere europäische Völker dank seiner jahrhundertelangen Erfahrung eines mehr oder weniger gedeihlichen Miteinanders der Konfessionen dazu verpflichtet, Wege im ökumenischen Gespräch aufzuzeigen, Wege, die zu einer möglichen Einheit der Kirche führen. Gemeint ist eine Einheit in Vielfalt, die den geistigen Reichtum der jeweiligen konfessionellen Herkünfte in die größere Einheit und Gemeinschaft der einen Kirche Jesu Christi einzubringen vermag. Wir müssen in Geduld den Weg der Ökumene im Geist der Versöhnung weitergehen.


Ich wiederhole immer wieder den mir wichtigen Gedanken: Wenn wir uns immer mehr miteinander unserer eigentlichen Mitte, d. h. Jesus Christus nähern, kommen wir, gleichsam zwangsweise, auch einander näher. Bei wirklich engagierten, geistlich lebendigen Christen, ob evangelisch, katholisch oder orthodox oder im freikirchlichen Bereich, erfahre ich immer wieder eine große Hochachtung und Wertschätzung der geistlichen Reichtümer der anderen Konfession. Da wird nichts an Differenzen zugedeckt, aber auch nichts dem anderen übergestülpt. Da leidet man unter den noch bestehenden Trennungen, etwa bei der Eucharistiefeier, aber man nötigt nicht den anderen, um eines augenblicklich frommen Gefühls willen, sein kirchliches Selbstverständnis aufzugeben. Man lernt aneinander und miteinander. Das nenne ich: versöhnt, nämlich in Hochachtung und Liebe miteinander umgehen.


Nur andeuten kann ich hier den Gedanken, dass der Fortschritt im Zusammenwachsen der getrennten christlichen Bekenntnisse mit dem Bemühen einhergehen muss, sich wieder der jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens vertieft bewusst zu werden. Der jüdisch-christliche Dialog ist in gewisser Hinsicht der hermeneutische Horizont für alle innerchristlichen Verständigungswege. Man muss sich darauf besinnen, aus welcher Familie man stammt, um verwandtschaftliche Beziehungen wieder zu aktivieren. Darum ist der Dialog der Christen mit unseren "älteren Geschwistern" von besonderer Wichtigkeit.


In gewissem Sinn gilt das auch für das Gespräch mit der dritten abrahamitischen Religion, dem Islam, der zunehmend in Europa Präsenz zeigt. Hoffnungsvoll scheint mir hier der Ansatz für das Gespräch die jeweilige Gebetserfahrung zu sein, weniger der theologische Vergleich der jeweiligen Lehrsystematik (die ja im Islam nicht so ausgeprägt gegeben ist wie im Christentum). Wo berühren Christen, Juden und Moslems dasselbe göttliche Geheimnis? Welche Erfahrungen machen sie dabei? Das könnte eine Fragestellung für einen Religionsdialog sein, der hoffnungsvoll ist.


Ich habe jetzt mehr aus der Perspektive unserer deutschen Situation das Versöhnungsthema kurz entfaltet. Es ist aber auch so deutlich geworden, welche Brisanz dieses Stichwort für die Kirchen Europas selbst beinhaltet. Ich brauche nur auf den noch immer nicht ausgestandenen Konflikt auf dem Balkan hinweisen, der auch (wenn auch nicht allein) ein Konflikt zwischen Konfessionen und Religionen ist. Die letzte europäische Ökumenische Versammlung 1997 in Graz hatte das Stichwort Versöhnung ausdrücklich thematisiert. Eine Frucht dieser Versammlung ist eine 2001 allen christlichen Kirchen Europas vorgelegte "Charta oecumenica", eine Selbstverpflichtung aller Christen unseres Kontinents, nie mehr zu dulden, dass unterschiedliche religiöse Bekenntnisse für Krieg und Vertreibung missbraucht werden dürfen.


Das gerade angebrochene neue Jahrhundert wird ein Jahrhundert des Dialogs der Weltreligionen werden. In diesem Gespräch wird das Christentum nur bestehen können, wenn es - bei aller Polyphonie seiner konfessionellen Ausprägungen - doch in seiner Grundmelodie für die anderen Religionen erkennbar wird. Die anstehende Aufgabe der Religionsökumene macht für mich die Vollendung der innerchristlichen Ökumene, der verbindlichen Einheit zwischen Rom, Byzanz bzw. Moskau und Wittenberg zu einer Herausforderung ersten Ranges. Auch, wenn wir keine uniforme Einheit der Kirchen anstreben wollen: Es muss eine Einheit sein, die uns gemeinsam zum Islam, zu den asiatischen Religionen hin dialogfähig und dialogwürdig macht. Nur gemeinsam könnten die Kirchen dem Evangelium Christi wirklich Gehör verschaffen.


Lassen Sie mich meinen Vortrag mit Worten von Kardinal Franz König schließen, einem Mann, der wie kaum ein anderer christliches Profil mit europäischer Weite verbindet: "Heute haben wir, wie zur Zeit eines Benedikt, die Last und die Chance eines neuen Anfangs. Das Schicksal dieses neuen Europas liegt in unseren Händen."



Anmerkungen:

1 Vgl. H. U. v. Balthasar, Katholisch. Aspekte des Mysteriums, Einsiedeln 1975, S. 8.

2 E. Biser, An der Schwelle zum dritten Jahrtausend: Wird dem Christentum der Einzug gelingen? Katholische Akademie Hamburg 1996, S. 6

3 Zitiert nach KNA/ÖKI/26

4 Ebd.



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