"Das Religiöse neu denken"

Predigt von Bischof Joachim Wanke am 1. Weihnachtstag 2003 im Dom zu Erfurt

Statt der Geburtsgeschichte Jesu, wie sie uns Lukas und Matthäus überliefern, stellt Johannes seinem Evangelium ein Weihnachtslied voran, den sog. Prolog. Das Lied fasst das Geheimnis der Weihnacht in die bekannten Verse:


"Und das Wort ist Fleisch geworden

und hat unter uns gewohnt,

und wir haben seine Herrlichkeit gesehen,

die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater,

voll Gnade und Wahrheit."


Das Lied spricht aber auch von dem, was das Kommen Gottes auf Erden mit sich bringt: Eine schmerzhafte Scheidung zwischen Finsternis und Licht.



"In ihm" - dem göttlichen Wort - "war das Leben,

und das Leben war das Licht der Menschen.

Und das Licht leuchtet in der Finsternis,

und die Finsterns hat es nicht erfasst."


Von Blaise Pascal, dem berühmten Mathematiker und Philosophen, stammt der nachfolgende Text, der gleichsam so etwas wie ein Kommentar zu den Wortes des Johannesprologes ist. Pascal schreibt: "Drei Arten von Menschen gibt es: die einen, die Gott dienen, weil sie ihn gefunden haben; die anderen, die bemüht sind, ihn zu suchen, weil sie ihn nicht gefunden haben; die dritten, die leben ohne ihn zu suchen und ohne ihn gefunden zu haben." Und Pascal fährt fort: "Die ersteren sind vernünftig und glücklich, die letzteren sind töricht und unglücklich, die dazwischen sind unglücklich und vernünftig" (Pens?es, Fragm. 257).


Ein gewagtes Wort, aber für den verständlich, der - wie Pascal - um die Größe, aber eben auch das Elend des Menschen weiß. An einer anderen Stelle schreibt Pascal: "Die Größe des Menschen ist groß, weil er sich als elend erkennt. Ein Baum weiß nichts von seinem Elend. Elend ist nur, wer sich als elend kennt. Aber nur das ist Größe, zu wissen, dass man elend ist" (Fragm. 397).


Was wie ein dialektisches Wortspiel aussieht, hat seine hintergründige Wahrheit. Wir tun so, als seien wir Götter, und wissen doch, dass der Tod auf uns wartet. Nichts ist sicherer als diese Tatsache. Wir gehen den Toten hinterher. Ist Weihnachten der Ort, davon zu sprechen?


Mich bewegt, wenn man im Fernsehen mit hochbetagten Persönlichkeiten konfrontiert wird, die früher einmal bekannt und berühmt waren. Es hat zwar etwas Rührendes, den hundertjährigen Schauspieler Johannes Heesters mit Frack und Fliege auf dem Bildschirm zu sehen und von ihm als einzigen Geburtstagswunsch zu hören, er möchte noch zehn Jahre weiter leben können - aber irgendwie ist das Ganze doch makaber. Zu welcher Gruppe von Menschen nach Pascal mag dieser Schauspieler-Greis wohl gehören? Aber fragen wir nicht nach anderen Menschen. Fragen wir uns selbst.


Ich habe für die heutige Weihnachtspredigt überlegt: Müsste man die Predigt nicht aktueller anfangen? Mit einem Bezug zu den Reformen, die jetzt im Bundestag beschlossen wurden? Oder mit einem Hinweis auf den Irakkrieg, der noch immer Menschenleben fordert, oder mit dem wachsenden Terrorismus, der gerade in den Weihnachtstagen viele Menschen mit Furcht erfüllt? Ich habe diese Ü;berlegungen verworfen, zum einen, weil ich weder ein Fachmann für Wirtschaft und Politik bin, noch meine, das Evangelium mit Tagesschau- Themen garnieren zu müssen. Das Wort Gottes spricht für sich. Es hat eine ernste und darin enthalten eine frohe Botschaft. Die ernste Botschaft lautet: "Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt... Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf."


Das gibt es: Wahrheitsverweigerung. Wahrheitsverdrängung. Ablenkung und Zerstreuungen aller Art, um nicht an das eine und wichtige denken zu müssen: unsere wahre Lage, unsere vom Tod vernagelte Zukunft.


Weihnachten offenbart den Zustand des Menschen. Der Mensch ohne Christus ist, wie unser Text sagt, in der Finsternis. Noch mehr: Er ist sogar fähig, sich in der Finsternis einzurichten, sich ihrer zu rühmen. Es gibt diese furchterregende Möglichkeit: Der Mensch kann sich seiner letzten und wichtigsten Berufung verschließen, nämlich der Berufung zu leben - und zwar mehr als 110 Jahre.


Die frohe Botschaft in dieser ernsten Botschaft unseres Textes lautet: "Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen die an seinen Namen glauben ... Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, Gnade um Gnade!"


Liebe Gemeinde!

Ich meine, dass Pascal bei seinen drei Arten von Menschen etwas vergessen hat. Es gibt eine vierte Art von Menschen, oder besser: Bei der ersten Art von Menschen, bei denjenigen, die Gott dienen, weil sie ihn gefunden haben, gibt es eine Untergruppe. Und das sind die Menschen, die Gott dienen, weil sie ihn gefunden haben - und dabei eingeschlafen sind!


Das heutige Fest kann und will uns Christenmenschen wieder wecken. Es will uns aufmerksam machen auf unsere wahre menschliche Situation, auf die Frage hinter allen Fragen, auf die allein es entscheidend ankommt. Oder sollten auch wir, die wir uns Christen nennen, so zerstreut, so mit allem Möglichen beschäftigt oder gar so abgestumpft sein, dass uns diese Frage eigentlich gar nicht interessiert?


Bei dem vielen Reden und Problematisieren um Religion und Kirche vergessen wir manchmal, worum es im christlichen Glauben der Hauptsache nach geht. Wozu sind wir eigentlich Christen? Warum das Ganze - Beten, Gottesdienst feiern, Sakramente empfangen? Ich rede einmal etwas polemisch: Doch wohl nicht, um den Sozialstaat zu retten. Manchmal habe ich den Eindruck, das Christentum schrumpfe derzeit auf die Funktion eines gesellschaftlichen Schmiermittels zusammen. Natürlich kann man vom Glaube her manch Kluges und Bedenkenswertes zur Reform des Sozialstaates sagen - aber den Stein der Weisen haben wir Christen, auch wir Bischöfe diesbezüglich nicht gefunden. Das Evangelium ist auch nicht zuerst und vor allem dazu da, die Menschen alle etwas höflicher, bescheidener oder liebenswürdiger zu machen. Erstens findet man unter den Heiden auch ganz passable Menschen und zweitens können gläubige Christen trotz aller Tugendanstrengungen auch recht unausstehlich sein.


Hören wir noch einmal die Botschaft: "Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden." Darum geht es im Glauben. Das ist der Grund, warum ich Christ bin. Ich hänge am Leben. Mich beunruhigt die Tatsache meines Sterbens. Ich halte Ausschau nicht unbedingt nach Verbesserung meiner Lebensqualität - wobei ich nichts gegen moderne Medizin habe, im Gegenteil! Aber ich halte Ausschau nach "richtigem" Leben inmitten des "falschen", wie ein moderner Philosoph es einmal gesagt hat. Ich halte Ausschau nach einem, der mich halten kann, wenn alle anderen mich loslassen müssen. Wie sagt es der Herr? "Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben" (Joh 11, 25f).


Es gibt letzte Dinge und - vorletzte, wie es der evangelische Theologe Bonhoeffer einmal ausgedrückt hat. An den letzten Dingen dran bleiben heißt nicht, die vorletzten zu vernachlässigen. Im Gegenteil: Wer um den Himmel weiß, wird die Erde erst recht würdigen. Aber er wird sie nicht zum Himmel machen. Das geht meist nicht gut aus. Der Glaube macht uns bescheiden. Er weiß, dass unser irdisches Leben Grenzen hat. Er macht uns aber unbescheiden, voll brennender Sehnsucht, wenn es ums Ganze geht, um mich selbst und um jene, die ich liebe.


Im Epheserbrief ist ein uraltes christliches Lied überliefert, vielleicht ein Tauflied. Es lautet: "Wach auf, der du schläfst, steh auf von den Toten - und Christus wird dich erleuchten!" (Eph 5, 14). Dieses Lied passt genau zu unserem weihnachtlichen Festgeheimnis. Es meint uns, uns wache, halbwache oder gar eingeschlafene Christenmenschen. Es fragt uns eindringlich: Weißt Du eigentlich, warum du Christ bist? Treibt dich um, ob du bei aller Geschäftigkeit deines Lebens das im Blick hast, worauf es wirklich ankommt? Hast Du die Kraft, wirklich einmal über dich selbst und deine Situation nachzudenken?


Ich erlaube mir, noch einmal einige Sätze des klugen Denkers Pascal zu zitieren. Er schreibt: "Wer die Eitelkeit der Welt nicht sieht, ist selbst eitel. - Wer sieht das nicht ein, mit Ausnahme der jungen Leute, die völlig vom Geschehen, von Zerstreuungen und dem Denken an die Zukunft erfüllt sind? - Nehmt ihnen aber die Zerstreuungen," so fährt Pascal fort, "dann werdet ihr sehen, dass sie vor Langeweile verdorren, sie spüren dann ihre Nichtigkeit, die sie nicht kennen: denn was ist unglücklich sein sonst, als unerträglich traurig sein, sobald man gezwungen ist, über sich selbst nachzudenken, und sich nicht zerstreuen kann" (Fragm. 164).


Und an anderer Stelle bemerkt Pascal sarkastisch mit spitzer Feder: "Bedenkt: Was ist der Vorzug, Finanzminister, Kanzler oder Parlamentspräsident zu sein, wenn nicht der, dass man einen Beruf hat, in dem man vom frühen Morgen an eine Menge Menschen empfängt, die kommen und gehen und die keine Stunde des Tages übriglassen, wo man über sich selbst nachdenken könnte? (Fragm. 139). Ich meine, Pascal hätte auch "Bischöfe" sagen können!

Weihnachten ist ein leises Fest. Es will uns zum Nachdenken bringen. Die Festtage laden uns ein zum Still-Werden, zum Beten, zum Betrachten der Krippe, zum Nachdenken über Gottes Wort und Verheißung, ob allein oder im Gespräch mit Menschen, die wir lieben. Nutzen wir diese Zeit! Wer weiß, ob sie uns noch einmal im kommenden Jahr geschenkt wird.


Der Papst hatte den Mut, am letzten Adventssonntag, am Ende des weihnachtlichen Einkaufsrummels, den Leuten auf dem Petersplatz etwas zu sagen, was wie eine Provokation klingt: Wer Weihnachten richtig feiern will, muss - so der Papst - diese vier Worte hochhalten: Demut, Stille, Staunen, Freude. Alles gehört hier zusammen: Demütig ist, wer um seine Sterblichkeit weiß. Wenn wir still werden, beginnen wir zu begreifen, was uns fehlt. Dann fängt erst eigentlich das Staunen über das Geheimnis der Weihnacht an, und mit dem Staunen kommt die Freude über das, was uns in Jesus Christus geschenkt worden ist.


Wie kann ich diese Predigt zusammenfassen? Vor wenigen Tagen gab es eine bischöfliche Erklärung mit dem Titel: Das Soziale neu denken. Ich formuliere einmal im Blick auf diese Predigt so: Das Religiöse neu denken !Von Weihnachten her neu denken - dann kommt die lahme Christenheit in Deutschland wieder auf die Beine, und mit ihr die Kirche, und vielleicht auch der Sozialstaat. Amen.

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