Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,
der Johannesprolog, den wir eben gehört haben, ist das späteste Weihnachtsevangelium, das uns im Neuen Testament überliefert ist. Das Johannesevangelium hat erst am Ausgang des 1. Jahrhunderts seine jetzige Gestalt erhalten.
Das älteste Weihnachtsevangelium ist auch nicht die berühmte Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums, die in der Christmette verkündet wird, sondern das älteste Weihnachtsevangelium ist uns in zwei Versen des Galaterbriefes des Apostels Paulus überliefert, der wahrscheinlich im Jahr 55 nach Christus geschrieben wurde.
Dieser Abschnitt aus dem Galaterbrief ist in jedem Jahr die zweite Lesung am Neujahrstag. Da wir aber am Neujahrstag einen chronisch geringen Gottesdienstbesuch haben, möchte ich in diesem Jahr die Botschaft dieses alten Textes als Grundlage meiner Weihnachtspredigt nehmen.
Es heißt im Galaterbrief: „Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen und damit wir die Sohnschaft erlangen“ (Galater 4,4-5). Der Text klingt fast wie ein Credo-Satz. Die Exegeten sind sich auch darüber einig, dass Paulus hier ein vorliegendes christliches Bekenntnis aufgenommen und für den Zusammenhang seines Briefes überarbeitet hat.
Der Termin der Geburt Jesu war die Fülle oder Erfüllung der Zeit, von der das frühe Judentum sehr häufig gesprochen hat. Aus diesen Parallelen wird deutlich, dass die Erfüllung der Zeit nicht einen bestimmten Termin im Kalender meint, sondern das von Gott gesetzte Ende eines Zeitraumes. Das Heilshandeln Gottes greift in die Geschichte ein. Es ist dem christlichen Mittelalter zu verdanken, dass wir bis heute unsere Jahre ab der Geburt Jesu Christi berechnen, also ab dem Ereignis, als die Zeit erfüllt war.
Die Geburt Jesu ist für Paulus zunächst die Sendung des Sohnes Gottes in die Welt und in die Geschichte. Was dies konkret heißt, wird durch zwei Ergänzungen verdeutlicht, die uns heute zunächst fremd sind. Ganz nüchtern heißt es: „geboren von einer Frau“. Angesichts der wunderschönen Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums, von der die Kunst so nachhaltig inspiriert wurde, oder angesichts der Sprachgewalt des Johannesprologs ist diese Formulierung im Galaterbrief an Nüchternheit nicht zu überbieten. Paulus interessiert sich hier nicht dafür, wie Jesus geboren wurde. Es genügt zu verkünden, dass der Sohn Gottes Mensch geworden ist.
Durch die ganz normale Geburt von einer Frau ist er vollumfänglich ohne Abstriche aus der Welt Gottes in die Welt und in die Geschichte der Menschen eingestiegen. Für Juden war und ist dies eine unmögliche Glaubensvorstellung, durch die die Souveränität und Jenseitigkeit Gottes Schaden erleidet. Der heutige Dialog zwischen Juden und Christen kann erfreulicherweise wechselseitige Akzeptanzen formulieren und gemeinsame Anliegen feststellen, vor allem im Kampf gegen Rassismus und für Religionsfreiheit, aber die christliche Sohn-Gottes-Christologie ist ein unüberwindbares Hindernis im Dialog zwischen Juden und Christen.
Die zweite Ergänzung im Galaterbrief formuliert deswegen, wie Paulus und die ersten Christen, die ja Juden waren, das Verhältnis zu ihrer jüdischen Religion formulieren: „Dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen und damit wir die Sohnschaft erlangen“ (Galater 4,4-5). Der Sohn Gottes wurde nicht nur von einer Frau geboren, sondern auch dem Gesetz unterstellt. Er wurde nicht nur Mensch unter Menschen, sondern darüber hinaus Jude und als solcher dem Gesetz unterstellt.
Das jüdische Gesetz ist der Weg, zum Heil des Menschen und zum ungetrübten Verhältnis zu Gott. Allerdings führt Paulus gerade im Galaterbrief aus, dass der Mensch aus eigener Kraft nicht im Stande ist, diesen Weg zu gehen. In diesem Dilemma kommt ihm der Sohn Gottes zu Hilfe. Als Sohn Gottes bleibt er natürlich in ungetrübter Gemeinschaft mit Gott und gesellt sich zu denen, die keine Chance haben, den Weg zu Gott zu gehen. Er macht ihnen das Angebot der Sohnschaft, das heißt das Angebot, von Gott adoptiert zu werden und so nicht aus eigener Kraft, sondern als Gnadengeschenk doch die Erlösung zu empfangen. Es heißt im Anschluss im Galaterbrief: „Weil ihr aber Söhne seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in unser Herz, den Geist der ruft: Abba, Vater. Daher bist du nicht mehr Sklave, sondern Sohn. Bist du aber Sohn, dann auch Erbe, Erbe durch Gott“ (Galater 4,6-7).
In wenigen Versen erläutert der Apostel Paulus die Tiefe des Weihnachtsgeheimnisses. Der Sohn Gottes setzt sich der Erlösungsbedürftigkeit der Welt aus. Er lädt uns ein, in ihm und mit ihm und durch ihn Kinder Gottes zu werden, die sich den Himmel nicht zu verdienen brauchen, weil Gott ihr lebendiger Vater ist. Nun könnte man kritisch fragen, ob Christen damit nach der Paulinischen Theologie Weihnachten nicht doch einen allzu großen Freibrief erhalten. Allerdings schreibt Paulus dazu kurz und knapp im Galaterbrief: „Ihr seid zur Freiheit (vom Gesetz) berufen, nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe“ (Galater 5,13).
In wenigen Worten skizziert der Apostel Paulus den Weg zur Erlösung durch das Geschenk der Gotteskindschaft. Das ist hohe Theologie. Sie hat aber ihren Ursprung in dem schlichten Satz „geboren von einer Frau“. Das älteste Weihnachtsevangelium im Galaterbrief hilft uns zu erschließen, was es mit dem Kind auf sich hat, das in Windeln gewickelt in einer Krippe liegt und so wird Weihnachten für uns zum eigentlichen Tag des Kindes. Wir haben schon vor neun Monaten begonnen, diesen Tag zu feiern, weil wir davon überzeugt sind, dass ein Mensch mit der Zeugung in die Welt und in das Leben der Eltern eintritt.