Bistumswallfahrt 2001:Predigt von Joachim Kardinal Meisner

Liebe Brüder, liebe Schwestern!

Was uns heute hier auf dem Erfurter Domplatz zusammen geführt hat, sind nicht unsere gemeinsamen Interessen und auch nicht ähnliche Aufgaben. - Was uns hier und heute zusammen geführt hat, ist unser gemeinsamer Glaube. Er besagt nicht: Ich glaube etwas, sondern er besagt: Ich glaube dir. Ich vertraue dir. Und da erhebt sich die Frage: Wem können wir heute noch trauen? Wem glauben? Mit Sicherheit können wir Gott trauen! Christus stellt uns gleichsam betend dem Vater vor im sogenannten Gebet des Herrn, dass uns täglich durchs Leben begleitet.

Im Vaterunser wird uns Gott als der vorgestellt, der ist: "... der du bist im Himmel."

Gott ist. - Was hat das zu bedeuten? Zunächst ganz einfach: Gott ist, er ist existent. Nicht die Götter sind Gott, sondern er allein. Man muss ihn anbeten und sonst niemanden. Sind denn nicht die Götter längst tot?, werden wir einwenden. Wer von euch wach ist und wachen Auges in die gesellschaftliche Umwelt schaut, der muss eine Gegenfrage beantworten: Gibt es in unserer gesellschaftlichen Umwelt heute keinen Götzendienst mehr? Gibt es nichts mehr, was angebetet wird neben Gott und gegen Gott? Das innere Zutrauen und Glauben macht Gott oder macht einen Abgott. Auf wen verlässt du dich? Wem traust du: dem Geld, der Lebensversicherung, den Medien, dem Genuss, dem Sexus, dem Prestige, der sozialen Würde? Das sind doch alles Mächte geworden, vor denen sich heute so viele Menschen bücken und erniedrigen. "Es gibt mehr aufrechte Bäume als aufrechte Menschen", hat man gesagt.

"Du sollst neben mir keine anderen Götter haben" (Dtn 5,7), steht im Dekalog. Gott ist. Es gibt die Hoheit Gottes, die über den gesellschaftlichen Zwecken und Zwängen steht. Es gibt die Anbetung Gottes, die uns von der Diktatur dieser Zwecke und Zwänge befreit, von der Diktatur der Götzen. "Gott allein genügt", sagt die große Theresia. Und darum sagt sie uns: "Nichts soll dich ängstigen, nichts dich erschrecken. Alles geht voc rüber. Gott allein bleibt derselbe. Alles erreicht der Geduldige, und wer Gott hat, der hat alles. Gott allein genügt."

Wo sich aber der Mensch auf den Thron Gottes niedergelassen hat, dort gerät der Mensch mit seiner Welt aus den Fugen. Dort muss man das Gebet der hl. Theresia umformulieren: Alles soll dich ängstigen, alles muss dich erschrecken. Alles geht vorüber - aber wie: Blicken wir nach Washington, New York, Jerusalem, Nordirland und ins Baskenland! Die Demontage der Schöpfungsordnung Gottes durch den Menschen zeigt sich in der brutalen Demontage der Lebensordnung der Menschen durch den Terrorismus. Dagegen setzen wir unseren glühenden Glauben an den lebendigen Gott.

Der Glaube an Gott macht den Menschen frei und froh und lässt ihn gegen alle gegenwärtigen Trends sich in Souveränität selbst bestimmen. Aber wir sind auch Kinder unserer Zeit, und darum werdet ihr verstehen, dass uns nur das Gebet - und zwar die Anbetung Gottes - befähigt, die vielfältigen notwendigen "Nein" dort zu sagen, wo die Götzen unserer Zeit von uns ein "Ja" verlangen. Hier werden allen die Knie weich, die nicht gewohnt sind, ihr Knie in Anbetung vor Gottes Hoheit zu beugen.

Im Gebet des Herrn stellt uns Christus Gott als Vater vor.

Wir brauchen uns nicht selbst zu produzieren, wir brauchen uns nur zu akzeptieren, denn Gott ist unser Vater und Schöpfer. Wir stehen nicht unter dem permanenten Leistungszwang, uns selbst und aus uns selbst etwas machen zu müssen. Wir brauchen uns nur aus Gottes Hand anzunehmen. In dem Maße uns das gelingt, in dem Maße bekennen wir Gott als unseren Schöpfer und Herrn. Gott bewahre uns davor, dass die Eltern in Zukunft mit Hilfe der sogenannten Biotechnik Kinder nach ihrem Maß produzieren. Es bleibt jedem überlassen, sich auszumalen, wie dann die menschliche Gesellschaft aussehen wird. Wir wollen uns aus Gottes Hand annehmen dürfen, wie wir sind. Bei ihm muss unser Leben angebunden bleiben, sonst zerfasert und zerkrümelt es. Und darum landen so viele Menschen heute durch die Bindungslosigkeit in der Schizophrenie.

Bindung an Gott bezeichnen wir mit dem Wort "religio", Religion. Nun gibt es Leute, welche die Parole ausgegeben haben: Religion ist Opium für das Volk, ein Betäubungsmittel für den Hunger nach Brot und gesellschaftlicher Erfüllung. Nun machen wir heute diese erstaunliche Erfahrung, dass gerade junge Menschen, die Brot im Ü;berfluss haben, gegen den Ü;berfluss revoltieren. Wenn Menschen alles haben, was sie sich wünschen, dann sind sie noch lange, lange nicht satt, sie haben einen unstillbaren Hunger. Nicht Brot und Geld, nicht Prestige und Karriere erlösen den Menschen und stillen seine Sehnsucht. Die Flucht in die Drogen und den Alkohol ist eine Antwort auf die Parole: Religion ist Opium für das Volk.

Gott ist nicht Opium. Gott ist Lebenselixier. In ihm leben wir, in ihm bewegen wir uns, ihm sind wir. Wenn Menschen nach der Droge greifen, weil sie im Ü;berfluss leben, dann kann der Ü;berfluss nicht die Religion überflüssig machen, sondern er macht sie geradezu notwendig. Die Formel: Religion ist Opium für das Volk wird durch die Erfahrung Lügen gestraft - und wer weiß das besser als ihr in den neuen Bundesländern. Ich sage es nochmal: Unser Gott ist nicht Opium, Gott ist Lebenselixier. Was kein Lebensmittel dieser Erde schenken kann, das gibt er uns, der das Brot des Lebens ist: Erfüllung in allen Dimensionen des Lebens. Dieses Brot ist nicht eine Sache, dieses Brot ist ein "Du". Du sollst das Leben haben und es in Fülle haben. Wer nach der Eucharistie greift, der kann auf Droge und Opium aller Schattierungen verzichten. Gott ist, und er steht in Treue zu uns, wie die Geschichte Gottes mit dem Volke Gottes beweist.

"Crux stat, dum volvitur orbis", sagt der heilige Bruno von Köln, der Gründer der Karthäuser: "Das Kreuz steht, während die Welt sich dreht." Auf dem Boden dieser Verlässlichkeit findet der Mensch die innere Gelassenheit und die Unabhängigkeit von den Zwecken und Zwängen der gesellschaftlichen Umwelt. Gelassenheit ist darum die anhaltende Geistesgegenwart Gottes in uns selbst. Der Mensch ist nicht Gott, er ist Geschöpf, Kind Gottes. Ich brauche mich daher nicht permanent so wichtig zu nehmen, sagt Jesus. Und wer sich nicht so wichtig nimmt, der hat einen Ü;berschuss an Kraft, den wir Liebe nennen. Den brauchen wir aber auch, denn wir müssen mit unserer Liebe und unserem Glauben nicht nur uns selbst ertragen, sondern auch die vielen Nichtglaubenden mittragen.

Mein Ich stellt sich so oft zwischen Gott und mich selbst. Gott aber will, dass wir dieses Ich aus unserer Mitte entfernen, aber auch aus der Mitte zwischen den Mitmenschen, damit er in unserer Mitte gegenwärtig wird, gemäß seinem Wort: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen" (Mt 18,20). Dann werden unsere Gemeinden "Christo-dynamisch" sein, d.h. schlicht "missionarisch". Eine kostbare Perle wird oft von einer Goldfassung gehalten. So ist unser viel, viel kostbareres Leben eingefasst von der Liebe Gottes, von der es gehalten und umgeben wird. Nicht Lebensversicherungen aller Art geben letzte Sicherheit, sondern die Umfassung meines Lebens durch die lebendige Liebe Gottes. Diese Gewissheit hilft uns, dass wir nicht aus der Fassung geraten, auch dann nicht, wenn wir in Ausnahmezuständen des Lebens geraten sollten, wie wir das gegenwärtig erleben.

Da ich mich auf Gott ganz verlassen kann, vermag ich auch mich selbst zu verlassen. Ich muss mich nicht unbedingt behaupten und festhalten. Ich kann auch weggehen von mir selbst. Wer sein Leben selbst nicht festhält, sagt Jesus, der wird es gewinnen. Er wird sich dann auf den festen Grund verlassen können, auf dem sein Leben aufruht: auf Gottes Weisheit. Hier ist unser Sicherheitsbedürfnis wirklich gestillt.

Vaterunser beten wir dann: "Geheiligt werde dein Name".

Gott, der Unsichtbare und Ewige, hat sich in unserer Geschichte durch Menschen geoffenbart, und zwar so sehr, dass sie ihm ihren eigenen Namen geben konnten. Menschen geben tatsächlich Gott ihren Namen. Darum stellt sich Gott dem Mose in der Wüste vor, indem er sagt: "Ich bin der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs." (Ex 3,15). Und wir fügen hinzu: "Er ist auch der Gott Marias, Petrus, Maximilian Kolbes, der Gott Hugo Aufderbecks und der Gott Mutter Teresas von Kalkutta. Und wir fügen nochmals hinzu: Er ist der Gott Papst Johannes Paul II. und der Schwester Emanuelle. Kannst du diesem Gott auch deinen Namen geben? Haben wir einen so guten Namen, dass er für Gott akzeptabel und tragbar ist, sodass die Menschen sagen könnten: "Es muss der Gott der Rita Müller und der Gott des Johannes Meier sein." Um eures Namens Willen werde ich vor den Heiden geschmäht, sagt Gott im Alten Bund. Um eures Namens Willen möchte Gott vor den Heiden verherrlicht werden, hier in unserer Bundesrepublik Deutschland, in den neuen Bundesländern, in Europa und in aller Welt. Geheiligt werde dein Name, das heißt, einen solchen Namen zu haben, dass er für Gott tragbar und akzeptabel wird.

Wir sind heute hier zusammen gekommen als Menschen, die den Glauben an den persönlichen Gott gefunden haben wie die Frau im Evangelium die verlorene Drachme und der Hirt das verlorene Schaf. Wie sie erfüllt darüber Freude unser Leben und ein wirkliches Hochgefühl: Wir haben mit unserem Glauben - darauf gebe ich euch mein Ehrenwort - das große Los in unserem Leben gewonnen. Und damit gehören wir nicht in die letzte Nachhut des Mittelalters, wie wir gerne definiert werden, sondern wir sind die erste Vorhut einer Zukunft, von der unsere Zeitgenossen eigentlich noch gar keine Ahnung haben. Als Menschen des Glaubens dürften wir Minderwertigkeitskomplexe eigentlich nur vom Hörensagen kennen. Siegesbewusstsein und Selbstbewusstsein sind das Echo auf unseren Glauben, denn ich glaube nicht etwas, ich glaube dir, ich vertraue dir, ich verlasse mich ganz auf dich, Gott, du unser Vater. Amen

Joachim Kardinal Meisner
Erzbischof von Köln


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