AUF DEM JAHRESPRESSEEMPFANG 2000
DES BISTUMS ERFURT AM MONTAG, 27. MÄRZ,
IN DER BILDUNGSSTÄTTE ST. MARTIN
Sehr geehrte Damen und Herren der regionalen
und überregionalen Presse, von Hörfunk und Fernsehen,
Einleitend zum heutigen Pressegespräch möchte ich auf zwei Anliegen eingehen, die mir als Bischof besonders am Herzen liegen:
Der eine Punkt betrifft unsere Kinder und Jugendlichen: Ü;ber deren berufliche und wirtschaftliche Zukunft wird durchaus kontrovers diskutiert. Es fehlt mir aber eine öffentliche Debatte um die Frage: Welche Werte, welche Leitorientierungen wollen wir ihnen vermitteln? Wir brauchen, so meine These, eine neue Grundwerte-Diskussion in unserem Land.
Das andere Anliegen bezieht sich auf die Präsenz des Christentums in unserer Gesellschaft, auf das, was die Kirche in sie einzubringen hat: das "Salz" des Evangeliums.
Zwischen beiden Themen besteht durchaus ein Zusammenhang. Durch die Verkündigung der christlichen Botschaft will die Kirche Werte in die Gesellschaft einbringen, die sie für wichtig und unaufgebbar hält, eben auch für die Zukunft der heranwachsenden Generation.
1. Für welche Werte lohnt es sich einzusetzen?
Wird heute von Werten gesprochen, ist oft zugleich vom Werteverfall die Rede. Eine solche pessimistische Sicht möchte ich mir freilich nicht zu eigen machen. Junge Leute stellen heute manche überkommenen Werte auf den Prüfstand. Sie sind kritisch gegenüber Traditionen. Sie fragen eher nach dem, was Spaß macht, was der Selbstverwirklichung dient. Aber sie können auch selbstlos sein, einsatzbereit, wenn es um Hilfe und Solidarität geht, ob für die bedrohte Natur oder für Menschen in Not.
Dennoch, bei aller Vorsicht mit dem Urteil "Werteverfall": Es ist unbestritten, dass wir in einer schnellebigen Zeit leben. Es gibt derzeit tiefgreifende kulturelle Veränderungen. Wir kennen die Begriffe, die die gegenwärtige Situation bezeichnen; jeden Tag werden sie von Ihnen für Ihre Berichterstattung benutzt: Begriffe wie Globalisierung, Modernisierung, Individualisierung. Traditionelle Bindungen und institutionelle Regelungen treten zurück. Neue Freiheiten entstehen. Es wird für den Einzelnen, besonders den jungen Menschen immer schwieriger, sich zurechtzufinden. All das forciert den Wertewandel: Neue Werte treten hervor, vorhandene Werte bzw. Werteinstellungen ändern sich.
Es wäre unverantwortlich, diesen Wertewandel nicht verantwortlich mitzugestalten. Denn Werte sind keine natürlichen, sondern kulturelle Größen. Ich vermisse allerdings eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, welche Werte wichtig sind und wie wir diese unseren Kindern und Jugendlichen vermitteln können. Angesichts der Pluralisierung von Lebensstilen und Lebenseinstellungen sind gerade Kinder und junge Menschen auf hilfreiche Orientierungen angewiesen.
In diesem Sinne möchte ich auf Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft hinweisen, die der Realisierung lebenswichtiger Werte den Boden entziehen. Mir geht es hier um solche Werte wie Freiheit und Verantwortung, Gerechtigkeit und Solidarität, Verlässlichkeit und Toleranz, Ehrfurcht und Mitleid u. a., die oft nicht mehr als Werte angesehen werden.
* Bedenklich ist für mich, wenn sich heute ökonomisches Denken in vielen Lebensbereichen durchsetzt. Denken wir lediglich in den Kategorien von Effizienz und Gewinn, dann hört der andere auf, Mitmensch zu sein. Dann wird er nur noch zum Konkurrenten oder gar zum Mittel zum Zweck.
* Bedenklich ist für mich, wenn wir die Frage "Was ist der Mensch?" auf der Grundlage von Modetrends beantworten. Sind allein Jugendlichkeit, Fitness und Leistungsvermögen die Standardnorm, dann werden Alte, Kranke und Leistungsschwache zum gesellschaftlichen Ballast. Dann hat auch das ungeborene Leben letztlich keine Chance, zur Welt zu kommen, zumal wenn bei ihm eine mögliche Krankheit diagnostiziert ist. Jedes Leben hat in sich seinen Wert. Auch das kranke Leben hat ein Lebensrecht. Es darf keine "Selektion" von gesellschaftlich wertvollem und nicht wertvollem Leben geben. Die Diskussion um die "Pränatale Implantationsdiagnostik PID" muss hellwach und kritisch geführt werden!
* Bedenklich ist für mich, wenn wir Freiheit als "Ich mache, was ich will" verstehen. Die Freiheit anderer muss als Grenze meiner Freiheit geachtet werden. Egoismus und fehlende Verlässlichkeit verhindern glückende Beziehungen, machen den Menschen letztlich einsam.
* Bedenklich ist für mich, wenn Spaß und unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zu alles entscheidenden Größen werden. Wirkliche Anstrengungen, ernsthafte Gespräche, Pflichtgefühl und Verantwortlichkeit werden so nicht gefördert. Das Leben wird oberflächlicher und schenkt letztlich weniger dauerhafte Erfüllung.
* Bedenklich ist für mich, wenn sich der Mensch selbst zur letzten Größe wird. Dann schwindet die Fähigkeit, sich für große Ziele einzusetzen, Visionen zu entwickeln, über sich selbst hinauszuwachsen. Wer sich nicht an Höheres binden kann, bleibt letztlich immer an sich selbst gebunden.
Meine Frage: Ist in unserer Gesellschaft das Gespür dafür gegeben, dass gegen solche Trends gemeinsam angegangen werden muss? Schützen wir die Räume, in denen zu Werten wie Freiheit und Verantwortung erzogen werden kann?
Ein solcher Raum ist vor allem die Familie. "In der Familie erfahren Menschen Erfüllung, geschieht die personale Entfaltung von Kindern, werden soziale Verantwortung und Solidarität eingeübt, Erfahrungen und Traditionen weitergegeben." (Sozialwort der Kirchen, Nr. 192)
Es bleibt darum unverständlich, dass gerade Familien mancherlei gesellschaftliche Benachteiligungen hinnehmen müssen. Kinder sind für manche Eltern nahezu ein Armutsrisiko. Das ist im reichen Deutschland ein Skandal! Die Akzeptanz kinderreicher Familien nimmt weiterhin ab.
Wenn wir dem nicht entgegenwirken, entziehen wir unserer Gesellschaft die Grundlagen. Was die Familien nicht in der Wertevermittlung leisten, können andere gesellschaftliche Gruppen und Einrichtungen nur in Einzelfällen ausgleichen, wenn überhaupt. Die Familie ist und bleibt die Keimzelle der Gesellschaft. Sie ist darum besonders schutzbedürftig.
Ausdrücklich warnen möchte ich deshalb vor Tendenzen, den in der Verfassung unseres Staates grundgelegten besonderen Schutz von Ehe und Familie (Art. 6, Abs. 1 GG) schleichend auszuhöhlen. Diese Tendenz zeigt sich etwa im Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung zum Stichwort: gleichgeschlechtliche Partnerschaften. Dazu hat jüngst die Deutsche Bischofskonferenz Stellung bezogen (vgl. Anlage Pressemappe).
Ausdrücklich würdigen möchte ich den wichtigen Beitrag, den unsere Schulen für die Erziehung unserer heranwachsenden Generation leisten. Aber angesichts der gewachsenen Freiräume junger Menschen, auch dem teilweisen Versagen der Familien in ihrem spezifischen Erziehungsauftrag, werden an unsere Lehrer große Anforderungen gestellt. Sie sollen all das an Erziehungsleistung erbringen, worin Familien und gesellschaftliche Öffentlichkeit ausfallen. Ich möchte nicht gegen Computer in den Schulzimmern polemisieren. Es ist richtig und wichtig, dass junge Menschen in diese neue Kulturtechnik eingeführt werden. Wichtiger aber als Computer-Kompetenz wäre freilich Wertekompetenz. Wir brauchen Schulen, in denen die Lehrer Zeit und Raum haben, sich den Schülern menschlich zuzuwenden. Wichtiger wäre eine Erziehungsarbeit, die Werthaltungen und Lebenseinstellungen im oben genannten Sinn fördert. Was wir bei den Familien und bei der Erziehung unserer Kinder sparen, müssen wir an gesellschaftlicher "Reparaturarbeit" im Nachhinein doppelt und dreifach einsetzen.
2. "Auskunftsfähige" Kirche werden
Lassen Sie mich noch kurz auf ein anderes Anliegen eingehen, das mich und viele meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Seelsorge bewegt, auch über unsere Kirchengrenze hinaus. Das ist die Frage, auf welche Weise der christliche Glaube in unserer konkreten Gesellschaft, speziell hier in Thüringen, neue Ausstrahlungskraft gewinnen kann.
Ich rede nicht gern von Mission. Das Wort ist für manche Leute verdächtig, als gehe es hierbei um Ü;berredung und "Kundenfang". Lassen Sie es mich in einem Bild sagen: Wer einen guten Urlaub erlebt hat, der erzählt davon gern weiter. Er gibt seinen Freunden und Bekannten vielleicht sogar einen Tipp: "Fahr da einmal hin! Da hat es mir gut gefallen! Da lässt sich gut Urlaub machen!" Gute Erlebnisse und Erfahrungen haben es an sich, sich wie von allein weiterzuverbreiten.
Im kulturellen Umbruch unserer Gegenwart, speziell in der "Fremdheit" des Christlichen in der hiesigen gesellschaftlichen Luft des Ostens braucht es "Biotope" christlicher Lebenskultur, die Menschen auf das Evangelium Jesu Christi aufmerksam machen. Um diese Formel "Evangelium" etwas zu unterlegen, erläutere ich das einmal mit diesen Begriffen: Das Evangelium kommt dort zum Vorschein, wo Menschen z. B. aus diesen Grundhaltungen leben: aus der Haltung der Ehrfurcht und des Staunens, aus der Haltung des Mitleids und der Fürsorge, aus der Haltung der Selbstbeherrschung und des Maßhaltens, kurz: aus solchen Grundhaltungen, von denen oben schon die Rede war. Solche "Biotope" eines evangeliumsgemäßen Lebens sind zuerst und vor allem unsere christlichen Familien. Das sind im weiteren Sinn auch unsere Pfarrgemeinden, aber auch kleine Zellen von Ordensleuten oder geistlichen Gemeinschaften. Das können kirchliche Schulen sein, aber auch Selbsthilfegruppen auf christlichem Hintergrund.
Mir liegt daran, dass wir als katholische Kirche in Thüringen unsere "Türen" öffnen und Möglichkeiten schaffen, dass Menschen außerhalb des kirchlichen Milieus einmal echten Lebenskontakt mit gelebtem Christentum bekommen. Wir brauchen mehr "Haltegriffe" und "Trittbretter" an unserem "Kirchenzug", damit sich Leute, vielleicht auch nur für eine Zeit lang, daran festhalten bzw. einmal aufspringen können! Zum Teil geschieht das schon, etwa durch besondere Gottesdienste, die Außenstehende ansprechen, oder durch die Öffnung unserer kirchlichen Jugendhäuser für nichtgetaufte Jugendliche. Im Sommer soll es in vier Erfurter Kirchen in Verbindung mit dem Erfurter Angermuseum, näherhin der Barfüßerkirche eine Ausstellung über sakrale Kunst geben, die zur "Berührung" mit dem "göttlichen Bereich" einladen will. Nicht wenige Menschen finden zum Glauben und zur Taufe gerade über den Weg der Kunst.
Ich kann diese Grundlinie meiner Ü;berlegungen hier nur andeuten. "Auskunftsfähige Kirche werden", das könnte ein Schlüsselwort für Seelsorgsbemühungen unserer katholischen Kirche in Thüringen sein. Wir möchten gern unseren Mitmenschen Anteil geben an den guten Erfahrungen, die wir selbst mit Gottesglauben und Kirche gemacht haben, nicht zuletzt in den DDR-Jahrzehnten.
Aber wir möchten gerade auch uns selbst von außen her anfragen lassen, weil solche Anfragen von Menschen außerhalb der Kirche uns bereichern. Davon bin ich fest überzeugt. Ich weiß das beispielsweise aus Gesprächen mit vielen unserer Mitarbeiter in der Caritas, die Tag für Tag mit vielen Nichtchristen Alltagskontakt haben und aus solchen Kontakten und Gesprächen in ihrer eigenen Christsein bestärkt werden.
Ich fasse zusammen:
Dort, wo es um eine menschliche Zukunft für unsere Gesellschaft geht, wollen wir als katholische Kirche in Thüringen nicht fehlen. Aber wir möchten profiliert präsent sein, eben mit dem, was unser Reichtum ist. Das ist der Gottesglaube aus christlicher Tradition. Unsere Kinder und Jugendlichen sollten nicht nur die Computersprache kennen, sondern auch die Zehn Gebote. Sie sollten nicht nur nützliche Berufe lernen, sondern auch das Gleichnis Jesu vom verlorenen Sohn (vgl. Lukas 15) kennen. Es könnte ihnen dabei helfen, sich selbst nicht zu verlieren und eine menschlichere Welt zu bauen.
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