Erfurt (BiP). Der traditionelle Elisabethempfang des Erfurter Bischofs fand diesjährig am Donnerstag, 22. November, statt. Eingeladen hatte Bischof Dr. Joachim Wanke die Mitglieder der Thüringer Landesregierung und des Thüringer Landtages, die Thüringer Abgeordneten im Bundes- und Europaparlament sowie die Mitglieder des Magistrates und des Rates der Stadt Erfurt. Zum Empfang waren auch die Vertreter des Gemeinde- und Städtebundes, des Landkreistages, Vertreter von Landes- und Bundesgerichten in Thüringen, der Bundeswehr, der Verbände der Wirtschaft und des Handwerks sowie der Gewerkschaften geladen.
Im Mittelpunkt des Abends stand die Ansprache von Bischof Joachim Wanke "Europa vor den Herausforderungen unserer Zeit", die wir im Folgenden dokumentieren.
Ansprache zum IX. Elisabethempfang
am Donnerstag, dem 22. November 2001,
in der Bildungsstätte St. Martin
sehr verehrte Frau Landtagspräsidentin,
verehrter Herr Verfassungsgerichtspräsident,
sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
meine Damen und Herren aus dem politischen und öffentlichen Leben unseres Landes,
zunächst herzlichen Dank für die freundlichen und aufbauenden Grußworte, die auch einem Bischof gut tun.
Ich begrüße Sie alle nochmals herzlich zum jährlichen Elisabethempfang und freue mich wieder darauf, dass wir uns heute in gewohnter Weise begegnen können.
Ihnen allen, die in Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik verantwortlich tätig sind, möchte ich mit dieser Einladung meinen Dank und die Anerkennung meiner Kirche zum Ausdruck bringen.
Im Augenblick stehen die Fragen im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Terrorismus im Mittelpunkt des politischen Interesses, wobei wir nie die Opfer von Terrorismus, Krieg und Gewalt vergessen dürfen. Im Bundestag gab es in der vergangenen Woche eine dramatische Entscheidung, bei der sich erneut die Schwierigkeit offenbarte, wie energische Abwehr verbrecherischer Terroraktivitäten und das Bemühen um politische Lösung akuter Krisen ohne militärische Mittel miteinander zusammengehen können. Auf diese Frage gibt es keine einfachen Antworten, wie auch die kontroversen Debatten selbst in unserer katholischen Kirche zeigen.
Ohne Zweifel kann sich Deutschland nicht heraushalten, wenn ein Beitrag der Völkerfamilie gegen den internationalen Terrorismus erforderlich wird. Es ist Sache der Bundesregierung abzuwägen, wie der konkrete militärische Beitrag Deutschlands bei der gemeinsamen Terrorismusbekämpfung auszusehen hat. Wofür ich eintreten möchte ist, dass der Deutsche Bundestag in mögliche weiterführende Entscheidungen eingebunden bleiben muss, auch in Zukunft.
Soviel freilich möchte ich sagen: Bomben allein, zudem auf eines der ärmsten und am meisten geschundenen Länder der Welt, können keine hinreichende Antwort auf die Terrorismusprobleme sein. Es bedarf einer langfristigen gemeinsamen Politik der Weltmächte, die nicht nur auf militärische Stärke setzt, sondern auch auf Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Die ungerechten Verhältnisse und Gesellschaftsstrukturen, die den Terroristen in bestimmten Ländern Zulauf verschaffen, müssen verändert werden. Und diese Verhältnisse gibt es bekanntlich nicht nur in Afghanistan.
Die deutschen Bischöfe haben soeben dazu aufgerufen, Afghanistan baldmöglichst humanitär zu helfen und einen großzügigen Wiederaufbau des Landes zu ermöglichen. Kurzfristig geht es vor allem um konkrete Hilfe angesichts des bevorstehenden Winters. Wo Menschen in höchster Not sind, gilt es sofort zu handeln - unbeschadet weiterer mittel- und langfristiger Ü;berlegungen.
Lassen Sie mich aber noch ein paar Sätze zu dem Thema sagen, dass ich mir eigentlich für heute abend vorgenommen hatte:
Europa vor den Herausforderungen unserer Zeit.
In einer immer schneller und tiefgreifender sich verändernden Welt geht es um die Mobilisierung aller Kräfte, die zur Sicherung einer humanen Zukunft notwendig sind. Zu diesen Kräften gehört ohne Zweifel auch der christliche Glaube. Was kann er an Hilfen geben angesichts der Erwartungen und Hoffnungen, aber auch der Unsicherheiten und Ängste vieler Menschen auf unserem Kontinent?
Der Zusammenbruch totalitärer Systeme und die Erfahrung einer neuen Offenheit und Freiheit für viele Völker war ja zunächst ein Grund zu großer Freude. Aber in diese Freude mischt sich nun auch ein Erschrecken über die Abgründigkeit dieser neuen Freiheit, die beispielsweise den Völkern des Balkans Krieg und Tod beschert hat. Und jetzt lässt der terroristische Angriff auf die USA am 11. September mit all den damit verbundenen Folgen die Möglichkeit einer neuen, in ihrem Umfang noch nicht absehbaren Bedrohung der Welt aufscheinen.
Wie können Freiheit und Sicherheit in Europa gemeinsam Zukunft gewinnen? Dazu drei Stichworte aus der Sicht des christlichen Glaubens:
Europa braucht
1. einen gemeinsamen Wertehorizont
2. Mut zur Verteidigung des Lebens und
3. nicht nachlassende Bereitschaft zur Versöhnungsarbeit
1. "Horizonterweiterung"
Wir brauchen für Europa mehr als nur eine exzellente Wissenschaft und eine florierende Wirtschaft. Wir brauchen ein tragendes Fundament von gemeinsamen Wertüberzeugungen. Hier ist der christliche Glaube gefordert.
Ich meine, dass die gegenwärtige geistige Stunde in Europa und auch bei uns in Deutschland durchaus offen ist für eine Neu-Anknüpfung an die alte Botschaft des christlichen Glaubens. Säkularisation und Aufklärung gelten zwar für manche immer noch als Totengräber des christlichen Glaubens, aber es hat den Anschein, als ob das Christentum sich gegenüber diesen geistigen Mächten in einer günstigeren Position befindet als früher - im Verhältnis zum Säkularismus, weil diesem mit der Krise des Fortschrittsglaubens buchstäblich das Rückgrat gebrochen ist; aber auch im Verhältnis zur Aufklärung, weil diese letztlich Grundmotive der Botschaft Jesu in den profanen Bereich der Gesellschaft hineintransportiert hat, wie etwa Freiheit, Solidarität, Toleranz, die dort freilich mit der Zeit von ihrem tragenden Fundament gelöst wurden und jetzt langsam brüchig werden. Es ist wie mit einer Parfumflasche: Auch wenn sie leer ist, duftet es noch eine Zeit lang aus dem Flaschenhals! Aber nicht mehr lange!
Es beginnt jetzt das, was man "die Aufklärung über die Aufklärung" nennen könnte. Werte gibt es nicht ohne einen sie tragenden Grund. Darauf hat Jürgen Habermas in seiner jüngsten Rede in Frankfurt aufmerksam gemacht, als er vom anbrechenden Postsäkularismus gesprochen hat und von einer neuen Sensibilität für das, was die Religionen für die Zukunft der Menschheit beizutragen haben.
Der christliche Glaube muss sich seiner eigenen Identität und seiner sinnstiftenden Kraft neu bewusst werden. Ich hoffe auf eine solche Neubesinnung. Sie muss nur gewollt sein!
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein paar Worte zur im Dezember 2000 in Nizza feierlich proklamierten EU-Grundrechtscharta sagen:
Auch wenn bedauerlicherweise der Gottesbezug - wie im Grundgesetz oder in der Thüringer Verfassung vorhanden - in der EU-Charta nicht enthalten ist, hoffe ich doch, dass diese Verfassung zu einem Kristallisationspunkt einer europäischen Wertediskussion wird. In ihrer Präambel heißt es:
"In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität."
Sicher, Aussagen zum Lebensschutz, zur Bioethik und zur Stellung von Ehe und Familie stellen einen Kompromiss dar und sind aus kirchlicher Sicht bei Ü;bernahme in einen europäischen Verfassungsvertrag verbesserungswürdig. Es ist freilich wichtig, diese Fragestellungen nicht aus dem Auge zu verlieren. Wohin die Züge im künftigen geeinten Europa rollen, entscheidet sich an diesen Weichenstellungen.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich der Thüringer Landesregierung (insbesondere dem Europa-Minister Herrn Gnauck) für ihre Bemühungen bei der Erarbeitung der EU-Charta danken. Bekanntlich hat Thüringen den Bundesrat und damit die deutschen Länder im Konvent vertreten.
2. Das Leben verteidigen
Damit spreche ich an, was mir angesichts der mannigfachen Zeichen des Todes und des beschädigten Lebens in unseren europäischen Gesellschaften ein wichtiges Anliegen ist: Christen müssen die Kernschar einer großen Koalition für das Leben sein, und zwar eines Bündnisses, das weit über die Grenzen unserer jeweiligen Kirchen hinausgeht und alle Menschen guten Willens, auch nichtchristliche Zeitgenossen einschließt.
Auch bei uns ist eine zunehmende Entwertung des Lebens zu beobachten, des fremden Lebens, aber auch des eigenen Lebens. Ich weise nur auf einige Indizien hin: Wir tolerieren die Toten und Verletzten im Straßenverkehr; die lebenzerstörenden Suchtabhängigkeiten nehmen zu; Lebensgefährdung wird um ihrer selbst willen als Nervenkitzel gesucht; die Abtreibungspraxis wird akzeptiert, über die Möglichkeit der Euthanasie offen diskutiert, und zum Teil wird sie schon in einigen Ländern Europas praktiziert; brutale Gewalt ist zunehmend mitten unter uns allgegenwärtig. Das Menschenbild unserer Fernsehreklame macht es deutlich: Lebensqualität wird gemessen an den Konsum- und Genussmöglichkeiten. Menschliches Leben auf der Schattenseite gerät zunehmend unter Legitimitätsdruck: "Warum bist du nicht stark und gesund? Vielleicht bist du gar selbst daran schuld?" Für manche Mitbürger wird diese Angst schon sehr konkret, nicht mehr erwünscht, nicht mehr daseinsberechtigt zu sein. Eine Verlängerung dieser Liste von "Todeszeichen" in unserer Gesellschaft wäre leicht möglich.
Was können wir hier für Zeichen setzen? Die christlichen Kirchen Deutschlands hatten 1989 ein gemeinsames Wort verfasst: "Gott ist ein Freund des Lebens", ein Wort, das auch zu heiklen Fragen des Lebensschutzes, die zwischen den Kirchen oft kontrovers diskutiert werden, einen erstaunlichen Konsens formuliert hatte. In die breitere Öffentlichkeit hinein soll die ökumenisch getragene "Woche für das Leben" wirken, die mit wechselnden Themen die Aufmerksamkeit auf das Leben als Gabe Gottes lenken will. Ich darf schon jetzt darauf hinweisen, dass am 13. April 2002 die bundesweite Eröffnung der "Woche für das Leben" in Erfurt stattfinden wird. Sie steht unter dem Wort: "Von Anfang an das Leben wählen statt auswählen."
Hier anknüpfend möchte ich Folgendes zur bioethischen Diskussion bemerken: Auch wenn die Enquete-Kommission des Bundestages "Recht und Ethik der modernen Medizin" noch kein offizielles Votum zum Import embryonaler Stammzellen abgegeben hat, zeichnet sich doch erfreulicherweise in diesem Gremium ebenso wie im nationalen Ethikrat eine Mehrheit ab, die grundsätzlich den Import und damit die Forschung an embryonalen Stammzellen ablehnt. Ich hoffe, dass sich der Bundestag in den anstehenden Beratungen mehrheitlich diesem Votum anschließen wird.
Ich appelliere hier an die anwesenden Bundestagsabgeordneten, die Weichen richtig zu stellen. Zudem scheinen mir die Therapie-Hoffnungen, die sich auf die Forschung mit embryonalen Stammzellen richten, völlig überzogen.
Ich begrüße ausdrücklich die Bemühungen der Enquete-Kommission des Thüringer Landtages "Wahrung der Würde des menschlichen Lebens in Grenzsituationen", die durch Anhörungen und Stellungnahmen wichtige Zeichen für den Schutz menschlichen Lebens und damit für die Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung gesetzt hat.
Dazu gehören für mich auch der Einsatz der Thüringer Landesregierung für den Erhalt des besonderen Schutzes von Ehe und Familie bzw. das Bemühen der Parteien um das "Forum Familie".
3. Versöhnungsarbeit leisten
Wege der Versöhnung gehen und zur Versöhnung einladen - das ist gerade auch für uns Deutsche in der schwierigen Phase der noch zu vollendenden inneren Einheit Deutschlands und im Blick auf seine neue Rolle in Europa und in der Welt von morgen ein höchst aktuelles Thema.
Ich freue mich, wenn ich höre, dass gläubige Christen in unseren Gemeinden dazu beitragen, die Fremdheit, ja den Unwillen und das Misstrauen zwischen Ost und West durch ganz persönliche Zeichen der Verständigung und des Brückenschlags zu überwinden. Das ist gerade jetzt, in der Phase der abgekühlten Freude über die gewonnene Einheit und der Phase der Ernüchterung angesichts anstehender Sparmaßnahmen, wichtig. Es braucht Sachverstand und differenziertes Urteilsvermögen, um in den anstehenden Fragen der Ausgestaltung der Einheit - politisch, wirtschaftlich, kulturell - wirklich Zukunft zu gewinnen und nicht Zukunft zu verbauen. Aber noch mehr braucht es Menschen, die bereit sind, mit Vertrauen aufeinander zuzugehen, die nicht mit Ü;berheblichkeit ihre jeweils eigenen Erfahrungen als letzte Lebensweisheit ansehen, sondern die bereit sind, voneinander und miteinander zu lernen und notfalls gemeinsam neue Wege zu gehen.
Ich wiederhole hier, was ich schon mehrfach öffentlich zum Ausdruck gebracht habe, dass ich dankbar bin für den Einsatz vieler motivierter Frauen und Männer in Politik, Verwaltung, Justiz, Schule, Armee, Wirtschaft aus der alten Bundesrepublik bei uns im Osten, in den neuen Bundesländern. Dieser Einsatz hilft uns, aus den Problemen und Belastungen der Vergangenheit herauszukommen und gemeinsam Neues zu gestalten. Als Versöhnte versöhnt miteinander umgehen - trotz des politischen Meinungsstreits, trotz unterschiedlicher Prägung durch die jeweiligen Gesellschaftssysteme, trotz des Generationen- und Geschlechterkonflikts, das ist in der Tat eine Haltung, an der Christen sich gegenseitig erkennen sollten.
In der alten Bundesrepublik ist es gelungen, die Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich zu beenden und ein neues, freundschaftliches Miteinander der beiden Völker zu beginnen. Diese Versöhnung war die Kernzelle eines neuen Europas. Wir im Osten müssen diese Versöhnungstat noch nachträglich ratifizieren und zusätzlich das nachholen, was unser altes politisches System trotz seiner ideologischen Freundschaftsfloskeln nicht geleistet hat: die Versöhnung der Deutschen mit den Völkern Osteuropas. Im Blick auf Offenheit für das Fremde und die Fremden gibt es bei uns noch viel zu tun.
Einzelne Exzesse von Fremdenfeindlichkeit in unserem Land sollten uns nicht entmutigen lassen, mit Beharrlichkeit und Geduld wirkliche Verständigung mit unseren Nachbarvölkern anzustreben. Ich bin überzeugt, dass in der Breite unserer Bevölkerung die Bereitschaft dafür vorhanden ist. Gedankenlosigkeit, Unkenntnis (z. B. geschichtlicher Zusammenhänge) und zum Teil der schlimme Fatalismus, diese Haltung, die sagt: "Wir können ja ohnehin nichts bewirken!" sind die ärgsten Feinde einer echten Verständigung und Versöhnung.
Das Stichwort "Versöhnungsarbeit" gilt auch zwischen den Konfessionen und Religionen.
Das gerade angebrochene neue Jahrhundert wird ein Jahrhundert des Dialogs der Weltreligionen werden. In diesem Gespräch wird das Christentum nur bestehen können, wenn es - bei aller Polyphonie seiner konfessionellen Ausprägungen - doch in seiner Grundmelodie für die anderen Religionen erkennbar wird. Die anstehende Aufgabe der Religionsökumene macht für mich die Vollendung der innerchristlichen Ökumene zu einer Herausforderung ersten Ranges. Auch, wenn wir keine uniforme Einheit der Kirchen anstreben wollen: Es muss eine Einheit sein, die uns gemeinsam zum Islam, zu den asiatischen Religionen hin dialogfähig und dialogwürdig macht. Nicht zuletzt die schmerzhaften Erfahrungen der letzten Wochen werden diese Einsicht befördern.
Lassen Sie mich meinen Vortrag mit Worten des Altbischofs von Wien, Kardinal Franz König schließen, einem Mann, der wie kaum ein anderer christliches Profil mit europäischer Weite verbindet: "Heute haben wir, wie zur Zeit eines Benedikt, die Last und die Chance eines neuen Anfangs. Das Schicksal dieses neuen Europas liegt in unseren Händen."
Meine Damen und Herren,
ich danke Ihnen, dass Sie so lange stand-haft ausgehalten haben.
Ich wünsche uns einen guten und anregenden Gesprächsabend.
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