Beim Staatsakt der Thüringer Landesregierung am 3. Oktober dieses Jahres nannte die Festrednerin, die Bürgerrechtlerin Frau Freya Klier, vor der dort versammelten politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit das Kloster Volkenroda einen Ort, an dem "Zukunftstaugliches" passiere. Sie schilderte die Schwierigkeiten des Wiederaufbaus des alten Zisterzienserklosters, die anfänglichen Ressentiments der Einheimischen, die nach und nach schwanden. Sie sprach von der Kultur der Einfachheit, die dort praktiziert werde, vom verantwortlichen Umgang mit der Natur, dem Einbeziehen der Menschen vor Ort in Projekte und laufende Arbeiten. Sie meinte, dass sich selbst Schüler dort sehr entspannt bewegten. Wörtlich: "Immer, wenn ich Volkenroda verlasse, denke ich: Auf diesem Ort liegt ein Segen. Das hat vor allem mit der Glaubwürdigkeit seiner Bewohner zu tun. Wenige Gemeinschaften sind mir begegnet, die auf so stimmige Art Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft versöhnen: Ob avantgardistische Akkordeonklänge oder Franz Schubert, Gottesdienste oder Schüler-Seminare über die Punk- und Rock-Szene der DDR - Volkenroda bietet Geborgenheit, ein Miteinander unabhängig (von) der regionalen Herkunft, ein Miteinander von Mensch und Natur."
Freya Klier hat die religiöse Fundamentierung des Projektes Volkenroda nicht angesprochen. Das mag an der Ausrichtung ihrer Rede gelegen haben. Es ging ihr um das Verhältnis von Ost und West, weniger um das von Himmel und Erde. Doch der Name fiel: Jesus-Bruderschaft. Und mit diesem Namen das Stichwort: Hoffnung.
Können wir derzeit, wenn wir über Wege der Evangelisation nachdenken, mehr verlangen? Speziell in der Situation der neuen Bundesländer, die bekanntlich mehr als andere Regionen Deutschlands christentumsentfremdet sind?
In den letzten Jahren ist die Aufgabe einer missionarischen Präsenz des christlichen Glaubens in Deutschland wieder eindringlicher in den Blick gerückt. Papst Paul VI. hatte dazu seinerzeit in seinem Schreiben "Evangelii nuntiandi" (1975) einen kräftigen Anstoß gegeben. Auch der derzeitige Papst Johannes Paul II. sprach in letzter Zeit mehrfach die Notwendigkeit der Evangelisierung als Aufgabe gerade für Europa an. Ich erinnere an die EKD-Synode in Leipzig 1999, die dem Thema "Mission" gewidmet war, an das Pastoralschreiben der deutschen katholischen Bischöfe "Zeit zur Aussaat. Missionarisch Kirche sein" (2000) und das Arbeitsvorhaben der ACK in Deutschland "über die gemeinsame Aufgabe von Mission und Evangelisation in Deutschland". In diesem Zusammenhang ist auch das interessante Schreiben der französischen Bischöfe "Proposer la foi" (in seiner letzten Fassung vom 11. Juni 2000) zu erwähnen, das jetzt in deutscher Ü;bersetzung vorliegt.
Vielerorts stößt die genannte Aufgabenstellung durchaus auf Zustimmung. Die Ratlosigkeiten fangen freilich dort an, wo man nach den Möglichkeiten und Wegen einer solchen einladenden, werbenden Präsenz des Christlichen in der Gesellschaft fragt. Dazu im Folgenden einige Ü;berlegungen.
1. Jede Zeit ist dem Evangelium gleich nahe bzw. gleich fern.
Es gehört zu den Hindernissen einer evangelisierenden Pastoral zu meinen, die Entfremdungen zwischen dem Evangelium und den Menschen heute seien unumkehrbar. Es mag zwischen der jeweiligen konkreten Selbstdarstellung von Kirche und ihrer Lebensäußerungen einerseits und der Gesellschaft andererseits Ungleichzeitigkeiten und Brüche geben. Doch ist grundsätzlich festzuhalten, dass die Botschaft des christlichen Gottesglaubens jeder Zeit gleich nahe bzw. fern ist. Der Grund hierfür liegt in den Grundkonstanten der menschlichen Existenz, die sich trotz verändernder Rahmenbedingungen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens gleich bleiben. Die Zumutungen und Tröstungen, die das Evangelium Jesu Christi beinhalten, werden wie zu jeder Zeit so auch heute auf Annahme und auch auf Ablehnung stoßen.
2. Unser Umfeld: Radikaler geistiger Pluralismus
Wir haben uns einzustellen auf eine Epoche des Christentums, in der der christliche Glaube zu leben ist im Wissen um die Relativität des eigenen Standortes. Der Relativismus ist der Kern des heute faktisch überall präsenten geistigen Pluralismus. Wie diesem Pluralismus kirchlich und seelsorglich zu begegnen ist, ist die Herausforderung der heutigen Stunde.
Jeder Christ, selbst wenn er in noch vorhandenen kirchlich geprägten Gegenden lebt, ist diesem geistig-religiösen Pluralismus ausgesetzt. Die Erfahrungen mit anderen Religionen bzw. auch mit "Religionslosen" sind nicht mehr auszublenden. Das heißt: Sie müssen in die Verkündigung und Katechese mit einbezogen werden. Der "andere", der alternative Lebensentwurf ist überall existentiell präsent. Das wirft die permanente Frage auf: Warum bin ich eigentlich Christ? Das Fragen nach dem "Mehrwert" des Gottesglaubens wird also den Christen ständig begleiten. Die Glaubensentscheidung ist bis zum Lebensende niemals so abgeschlossen, dass Infragestellungen bis ins hohe Alter hinein unmöglich wären.
Ich weise nur auf eine Facette dieser Situation hin: der alte Konflikt zwischen Glauben und Wissen. Das Weltwissen der säkularen Wissenschaften fordert uns zu einer ständigen "Ü;bersetzungsarbeit" heraus. Es gilt, das je Eigene von Gottesglaube und säkularem Weltwissen klar zu erkennen, aber eben nicht beziehungslos nebeneinander stehen zu lassen. Jede Bemühung, dem Menschen von heute das Evangelium als Lebensprogramm anzubieten, hat das zu beachten. Es gibt keine Sonderwelt des Glaubens. Alles steht mit allem in Verbindung.
Es ist übrigens interessant, dass uns aus der säkularen Welt durchaus auch Hilfen für die Glaubensverkündigung zuwachsen, etwa das heute gewachsene Gespür für die Gemeinsamkeit aller Menschen in Heil und Unheil, oder die gesteigerte Sensibilität für die Welt als Schöpfung.
Einen solchen Ü;bersetzungsversuch der Glaubensaussage von der "Erschaffung des Menschen durch Gott" angesichts der neuen biotechnischen Möglichkeiten hat beispielsweise der Philosoph Habermas, der sich ja selbst als "religiös unmusikalisch" bezeichnet, in seiner Frankfurter Friedenspreis-Rede im Herbst 2001 vorgelegt. Was bedeutet die religiöse Rede von Schöpfung für den religionsfernen Zeitgenossen? Können sich beide, Religiöse wie Nichtreligiöse über die damit gemeinte Sache verständigen? Vermutlich braucht es in Zukunft nicht nur ein Gespräch der Weltreligionen untereinander, sondern auch eine "Ökumene" zwischen Religiösen und Nichtreligiösen.
3. Religiöse Indifferenz als neues Phänomen?
Das eigentliche Problem des pastoralen Arbeitens ist wohl die schmerzlich erfahrene Indifferenz der heutigen Zeitgenossen gegenüber der religiösen Frage. Gibt es dafür eine Erklärung? Vielleicht darf man von einer Art "Sprachverlust" sprechen, also von der Unfähigkeit, bestimmte Grunderfahrungen des Menschen (wie Erfahrungen von Abhängigkeiten, Angst, Sinnverlust u. ä.) adäquat ausdrücken zu können. Die religiöse Sprache steht vielen Zeitgenossen hierzulande dafür nicht mehr zur Verfügung. Christlich-kirchliche Vokabeln sind für die hiesigen Menschen wie "Chinesisch". Warum das so ist, ist nochmals eine eigene Frage.
Ob den Menschen mit diesem Sprachverlust auch die in dieser Sprache ausgedrückte Sache entschwindet? Dann hätten wir in der Tat einen neuen Menschentypus vor uns, den "religiös Unmusikalischen" (Max Weber), einen "homo areligiosus" (Eberhard Tiefensee). Ich bin freilich skeptisch. Ob es "religiös Unmusikalische" ebenso gibt wie eben von Natur aus unmusikalische Menschen, bleibt für mich eine offene Frage. Ich neige dazu zu sagen: Jeder Mensch ist offen für Transzendenz. Das gehört zu seinem Menschsein. Aber mir ist bewusst: Es kommt sehr auf die Definition von "Religiosität" an. Und zudem kann Religiosität verkümmern, ja verschüttet werden.
Richtig ist: Unsere Situation in der Seelsorge und Verkündigung ist bestimmt durch einen tiefgreifenden kulturellen Wandel. Die entsprechenden Stichworte sind bekannt und oft dargestellt: De-Institutionalisierung, Ausweitung der Wahlfreiheit für den Einzelnen, Subjektivismus und Relativismus in der Wahrheitsfrage.
Bezüglich der neuen Bundesländer ist freilich noch eine Besonderheit festzustellen. Hier ist die Abwendung der Menschen von Religion und speziell vom Christentum in der Tat weniger das Ergebnis einer Emanzipationsbewegung, sondern Ausfall bzw. staatlich verordnete Verdrängung von Religion aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Das Gesellschaftssystem der vormaligen DDR dämpfte die im Westen wirksam gewordenen Modernisierungsschübe und hinterließ eine merkwürdige Gemengenlage von Vormodernität. Das ist bis heute noch in ostdeutschen Mentalitäten und Gruppenbefindlichkeiten zu beobachten, etwa hinsichtlich der Einstellung zum Staat als omnipotentem Betreuer und Vormund, oder der Neigung zur Selbstgenügsamkeit oder auch der Tendenz zur Abschottung von allem Fremden und Ungewohnten. Etwas bissig könnte man im Osten noch von Relikten eines "kollektiven Hospitalismus" sprechen. Das erschwert sicherlich die Evangelisation noch zusätzlich.
Doch sollte die Situation der neuen Bundesländer nicht zu sehr als Sondersituation betrachtet werden. Die Herausforderungen in Ost und West ähneln sich letztlich doch sehr. Zudem: Es kann manchmal ein Vorteil sein, wenn Menschen den christlichen Glauben unvermittelt als etwas völlig Neues erfahren. Ich erfahre das zumindest so. Wo Vorurteile fehlen, kann eine Begegnung besser glücken.
4. Anknüpfen - aber wo?
Freilich: Im Osten Deutschlands kann nur sehr schwierig "Anknüpfungspastoral" auf herkömmliche Weise getrieben werden, wie das in einer Gesellschaft möglich sein mag, in der rudimentäre christliche Elemente (Feiertagskultur, Brauchtum, gesellschaftliche Konventionen) bzw. auch Eigenerfahrungen (Tatsache der eigenen Taufe, Vermittlung von religiösen Grundkenntnissen in der Schule) noch vorhanden sind. Freilich: Auch das gilt nicht apodiktisch. Es gibt ja selbst in unserer Luft des Ostens noch durchaus Erinnerungen an das Christentum, und wenn es das Vorhandensein der Kirchengebäude ist. Volkenroda ist ja mit dem Wiederaufbau der alten Kirche ein Beispiel für solch eine Anknüpfung an das Gewesene.
Doch sollten andere, vielleicht noch tiefer im Wesen des Menschen ansetzende Anknüpfungen möglich sein. Aus meiner Erfahrung heraus ist das besonders für hiesige Menschen die Erfahrung einer glückenden Beziehung, manchmal auch nur die Sehnsucht danach, oder auch die Erfahrung eines Scheiterns solcher Beziehungen. Das ist gleichsam zeitlos ein "Tor zur Transzendenz". Beziehungen kann man eben nicht machen. Sie sind zutiefst Geschenk. Und ihr Gelingen oder Misslingen bestimmt die Qualität des Menschseins.
Ein praktisches Beispiel für diese Art der Anknüpfung: Am Abend des jetzt auch im Osten sich verbreitenden Valentinstages, des Tages der Verliebten, wird neuerdings in einer Innenstadtkirche ein ökumenischer Segnungsgottesdienst angeboten, und zwar für alle, die möchten, dass ihre Beziehungen "glücken". Ein Chagallbild wird betrachtet, 1 Kor 13 (das Hohelied der Liebe) wird gelesen, ein Silbernes Ehepaar, ein frisch verheiratetes Ehepaar und ein jung verliebtes Pärchen erzählen, wie es ihnen mit ihren Beziehungen ergeht, und dann segnen in ökumenischer Eintracht ein Pfarrer und eine Pfarrerin, aber auch diese Laienchristen alle, die im Sinne dieser Intention gesegnet werden wollen. Das Interesse für diesen Gottesdienst ist erstaunlich.
Ich erwähne noch einige andere kleine Beispiele, wie wir versuchen, auf nichtchristliche Menschen zuzugehen. Im Erfurter Dom biete ich schon länger in der Weihnachtsnacht einen Gottesdienst der besonderen Art an: ein nächtliches "Weihnachtslob", bei dem sich viele, besonders auch junge Erfurter einfinden, beileibe keine Kirchgänger.
Ebenfalls in Erfurt, aber auch schon an einigen anderen Orten im Osten werden von unserer Kirche sogenannte "Lebenswende-Feiern" angeboten, die ausschließlich für ungetaufte Jugendliche gedacht sind. Die 14- und 15-Jährigen suchen nach solchen Feiern, in denen sie ihr Leben deuten und Begleitung durch verständnisvolle Erwachsene erfahren.
Oder ein etwas anders gelagertes Beispiel für heutige "Lernorte" des Christlichen: Im Advent war ich einmal an einem Werktag am Abend im größten Warenhaus der Stadt Erfurt zu einem Gesprächsabend. Inmitten der glitzernden Warenwelt ging es um das Thema: "Schenken - und Beschenken lassen". Was macht eigentlich eine Ware zu einem Geschenk? An die hundert Menschen waren gekommen, eine Reihe von ihnen sicherlich ohne jede Kirchenbindung. Eine evangelische Professorin aus Jena war noch dabei, eine Volkskundlerin, die gut über Brauchtum und die Geschichte unserer Feste Auskunft geben konnte. Es ging an diesem Abend sehr schnell um wichtige Fragen des christlichen Menschenbildes, und zwar ganz zwanglos, ohne "Predigtton"!
Ein Beispiel aus jüngerer Zeit: Am ersten Freitag eines Monats, um 15.00 Uhr, zur Sterbestunde Jesu, wird im Dom ein Totengedenk-Gottesdienst gehalten, und zwar für alle, die um einen Toten trauern und keinen Ort dafür haben. Ein Buch für die Toten ist aufgelegt, in das Menschen die Namen derer eintragen, um die sie trauern. Ganz einfache Gebete werden gesprochen. Die Trauer, aber auch die Hoffnung auf das Leben, das Gott schenkt, und zwar schon hier und jetzt, wird ins Wort gehoben. Ich war unsicher, ob Menschen das annehmen. Doch es gelingt. Es gibt ja immer mehr anonyme Bestattungen. Es gibt zunehmend Hilflosigkeit, mit dem Sterben vertrauter Menschen so umzugehen, dass man daran nicht zerbricht. Das Verhalten der weithin nichtchristlichen Bevölkerung nach den Mordtaten im Gutenberggymnasium unserer Stadt hat mir dies wieder gezeigt. Die Menschen suchten in Scharen den Dom und andere Kirchen auf, um gerade in diesen sakralen Räumen etwas zu erfahren, wonach sie unbewusst suchen: nämlich wider alle Hoffnung hoffen zu können. -
Das bedeutet, um den Gedanken abzuschließen: Die Vermittlung und Aneignung des Gottesglaubens in der "reflexiven Moderne", um dieses Schlagwort einmal zu gebrauchen, wird nicht einfach mit einer Instruktionspastoral gelingen. Ich bezweifle übrigens, ob in der Vergangenheit die Logik der "Eintrichterung" so bestimmend für Katechese bzw. Glaubensvermittlung war, wie manchmal in etwas oberflächlichen Darstellungen zu lesen ist. Der Barock als christlich-katholisches Lebensgefühl beispielsweise ist Inkulturation des Glaubens auf höchst intuitiver Ebene. Oder ein anderes Beispiel, das nachdenklich macht: Die explosionsartige Entfaltung christlich-kirchlicher Diakonie im 19. Jahrhundert, zudem weithin durch Laien bzw. neu entstandene Ordensfamilien der hierarchischen Kirche abgetrotzt, verweist zumindest in der Tiefenströmung auf noch andere tragende Kräfte der Glaubensvermittlung in damaliger Zeit. Oder: Was bedeutet es eigentlich, dass in der heutigen Literatur und Kunst so weitgefächert biblische Motive aufgegriffen werden? Ich meine, wir dürfen auf neue Anstöße einer christlichen Inkulturation auch in der Postmoderne hoffen.
5. Sensibilität für personale und institutionelle Wahrhaftigkeit
Die z. T. schmerzlichen Lernprozesse für die Kirchen heute bringen Chancen einer geistlichen und geistigen Erneuerung mit sich. Weder Abwertungstendenzen gegenüber der Welt und dem Menschen heute ("Die Leute werden immer gottloser!") noch identitätsfixierte Starrheit ("Das haben wir immer so gemacht!") eröffnen der Verkündigung und Seelsorge insgesamt Zukunft. Die Kirche muss dem heutigen Menschen "auf gleicher Augenhöhe" und mit dem Grundimpuls einer empathischen Solidarität begegnen. Die Sehnsüchte und Ängste, die Freuden und Hoffnungen der Menschen sind vom Evangelium her zu beleuchten. Jesus von Nazareth, der "wusste, was im Menschen ist" (Joh 2,25b), hat darauf vertraut, dass diesen Menschen dennoch Umkehr und Gottesberührung möglich ist. Seine Reich-Gottes-Verkündigung hatte in seiner eigenen Lebensgestalt Glaubwürdigkeit und Ü;berzeugungskraft. Er lebte, was er verkündigte. An dieser Glaubwürdigkeit können und müssen auch die Zeugen des Auferstandenen heute (wie in vergangenen Generationen) Anteil gewinnen.
Ein entscheidendes Kriterium dieser "Wahrhaftigkeit" der Kirche wird sein, ob von ihr der Grundimpuls der Solidarität mit der säkularen Gesellschaft ausgeht. Die Pastoralkonstitution des 2. Vatikanischen Konzils "Gaudium et spes" fängt mit den Worten an: "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi." Diese Grundhaltung muss Tenor unserer Verkündigung und seelsorglichen Bemühungen sein (vgl. als biblische Beispiele: Jesu Gespräch mit Nikodemus, mit der Frau am Jakobsbrunnen, seine Begegnung mit Zachäus u. a.). Die "Grammatik der Existenz" ist zumindest ebenso wichtig wie die "Grammatik der Glaubenslehre".
6. Gott ist dem Missionar voraus
Oder etwas anders formuliert: Evangelisierung meint nicht belehrende "Einrede" sondern "Aufdecken" der vorgängig vorhandenen Gottesbeziehung jedes Menschen.
Die Verkündigung in ihren vielfältigen Formen schafft nicht das Faktum der Gottesberührung, sondern hilft, den gnadenhaften Anruf Gottes bewusst und die Glaubensantwort ausdrücklich zu machen, den Menschen also zum "Danken" anzustiften (vgl. 2 Kor 4,15). Gottes Anruf, der jeden Menschen trifft, will einen "Resonanzraum" haben, in dem das Evangelium zum Klingen kommen kann. Das ist der letzte Sinn von Kirche: Sie ist "Raum der Gnade", "Resonanzraum" für das Evangelium, das uns von Gott als Botschaft der Rettung, als Proklamation eines grundlegenden Machtwechsels geschenkt ist.
Das bedeutet: Wir Seelsorger und Verkünder des Glaubens können nur "Hebammendienste" im Blick auf das Gottesverhältnis der Menschen leisten, niemals das von Gott geschenkte Leben "produzieren". Diese Haltung verhindert zum einen die vorschnelle Etikettierung und Abwertung von Menschen als rettungslos unreligiös (s. o.) und sie beflügelt zum anderen den seelsorglichen Einfallsreichtum, unter Umständen auch neue Wege in der Seelsorge zu beschreiten. Wir dürfen als Seelsorger im Dienst unseres Herrn hemmungslos optimistisch sein. Gott ist immer schon da, wo wir ihn hintragen wollen.
Nur als kleine Anmerkung: Warum ist uns dann überhaupt Seelsorge, auch missionarische Verkündigung von Gott her aufgetragen? Vielleicht - so meine Vermutung - mehr um unseretwillen. Gott hat uns im Blick, wenn er uns auf unsere Mitmenschen als Adressaten der Verkündigung verweist.
7. Evangelisierung als "Initiation" in den Glauben
In einer nichtchristlichen, von säkularer Ethik gespeisten Gesellschaft ist die missionarische Einladung zur Nachfolge Christi nur im Modus des "Anbietens" bzw. "Vorlegens" zu verwirklichen (vgl. den Brief der französischen Bischöfe "Proposer la foi"). Es geht um eine Pastoral, die nicht "von oben" her kommt, sondern die "auf gleicher Augenhöhe" und aus einer Haltung der Grundsympathie mit der heutigen Zeit und Gesellschaft jene Momente des Evangeliums zum Leuchten bringt, die den Menschen eine Identifizierung von innen her ermöglichen. Oder um mit Augustinus zu sprechen: Der "inwendige Lehrer" des Glaubens wird wichtiger sein als der "äußere Lehrer", der ja selbst immer wieder auch für sich selbst auf das Wirken des Gottesgeistes in seinem eigenen Leben angewiesen ist.
Das entlastet uns von einer uns mehr und mehr überfordernden "Pastoral der Erfassung" aller Glaubenden. Unser seelsorgliches Wirken darf den Schwerpunkt auf eine "Pastoral der Initiation" in den Glauben setzen. Hierbei ist die Zuwendung zu den Erwachsenen prinzipiell wichtiger als die zu den Kindern (was nicht ausschließt, dass der Weg zu den Erwachsenen manchmal über die Kinder und Schüler gehen wird. Doch gilt: Die Heranwachsenden orientieren sich weithin am Wertehorizont der Erwachsenen.) Es gilt also, Wege und elementare ("einfache", praktikable) Hilfen zu finden, den Glauben "erwachsen" zu leben. Unsere Pastoral sollte vorrangig Personen entwickeln, nicht allein Strukturen verändern (was auch notwendig ist, aber eben sekundär bleiben muss).
In diesem Zusammenhang ist auf eine grundlegende Eigenart des Glaubensaktes aufmerksam zu machen. Christlicher Glaube trägt in sich das Moment des Dialoges. Er ist ein Mitglauben mit dem Glauben anderer. Er kann nur Glaube im Vollzug, oder besser: im Gespräch sein. Glaube ist nie derart vorfindlich, dass er von der konkreten Lebenssituation des Einzelnen oder der Gemeinschaft der Kirche abkoppelbar wäre. Eine von der Neuscholastik geprägte Katechetik mag das eine Zeit lang geglaubt haben. Aber eigentlich war auch in vergangenen Zeiten der Frömmigkeitsgeschichte der christliche Gottesglaube immer "Antwort", nicht nur auf den Anruf von oben, sondern auch auf die Fragen der Zeit, der Mitmenschen und nicht zuletzt auf die Fragen des eigenen Herzens.
8. Eine neue kulturelle "Sprach- und Zeichenkompetenz" des Christlichen gewinnen.
Dazu bedarf es einer zweifachen Anstrengung: Verfremdung und Konzentration. Statt Konzentration könnte man auch sagen: Elementarisierung.
Zum einen wird das Christliche "verfremdet" werden müssen, um in seinem eigentlichen Profil erkennbar zu werden. Es geht ja im Evangelium um die Ansage und Zusage eines von Gott her in Jesus Christus ausgelösten Herrschaftswechsels. Uns ist in den von einem verblassenden Christentum eingefärbten Gesellschaften Europas die "Fremdheit" des Christlichen verloren gegangen. Ein "Leben aus dem Vorgriff auf Gottes Reich" inmitten einer von innerweltlichen Mächten beherrschten Gesellschaft bedarf neuer Ausdrucksformen (nicht nur durch Ordensleute und Kommunitäten, aber eben auch durch diese!).
Zum anderen sind für die Kirche und ihre Lebensäußerungen eine Konzentration auf die Mitte ihres Auftrags notwendig, auf ihr "Kerngeschäft". Dieses besteht in der Proklamation und der "Feier" dieser von Gott her erfolgten Freisetzung des Menschen. Das muss in jeder Generation neu geschehen. Auch heute - in Thüringen und anderswo. Das bedeutet: Gebet und Liturgie bleiben die Basis für Diakonie und Zeugnis, nicht umgekehrt. Es bedarf vermutlich des Umbaus bzw. der Modifizierung mancher überkommener Formen kirchlichen Arbeitens, besonders dort, wo diese kaum noch mit dem spirituellen "Grundwasser" des Evangeliums in Verbindung stehen.
Die Zukunft von Kirche und Gottesglaube in Europa wird entscheidend davon abhängen, ob Christen als Einzelne und gemeinsam eine neue "Auskunftsfähigkeit" erlangen. Das "Verstummen" des Glaubens im Alltag unseres Lebens ist für mich die bedrängendste Erfahrung in der Seelsorge. Die Christen im Kern unserer Gemeinden und Gemeinschaften müssen neu lernen, "auskunftswillig" und "auskunftsfähig" für andere zu werden.
9. Eine neue Balance zwischen Parochialseelsorge und kirchlicher Arbeit in "Lebensräumen"
Die neue Mobilität der Menschen, ihre gewandelten Lebens- und Berufssituationen verändern auch bisher bewährte Formen der kirchlichen Arbeit. Die Kirche wird auch in Zukunft immer wieder die Gläubigen "vernetzen" müssen, besonders in Gemeinden, die sich um das Wort Gottes und um den Altar versammeln. Ich spreche gern von der Notwendigkeit von "Glaubensbiotopen", also Orten der Einübung und Bewährung christlicher Lebenspraxis. Nur solche Orte können Quellgrund einer "nachhaltigen" Evangelisierungsarbeit werden, also Dauerhaftigkeit schaffen.
Aber es wird heute neue, offene und vermutlich kurzfristige, gleichsam "flüchtige" Evangelisierungswege und Pastoralstrategien geben, die sich z. T. schon abzeichnen ("Offene" Arbeit, City-Seelsorge, Wallfahrts- und Ordenszentren, sachbezogene Netzwerke, "Bewegungen", Personalgemeinden u. a.). Dieser Wandel ist nicht in jedem Fall ein Abbau, sondern manchmal auch ein Umbau des bisher Gewohnten. Entsprechend werden in Zukunft kirchliche Ressourcen "umgeschichtet" werden. Hier liegt noch ein weites Lernfeld vor uns, das uns freilich hier nicht beschäftigen kann. Die manchmal auftretenden Spannungen zwischen der pfarrlichen Gemeindearbeit und der Arbeit von Kommunitäten und Ordensgemeinschaften sind uns ja schon aus der Geschichte bekannt. Sie begleiten uns auch heute. Doch muss arbeitsteilige Evangelisierung nichts in sich Schlechtes sein.
Zum Abschluss noch eine mehr inhaltliche Anregung:
10. Das "Jahr der Bibel" als Chance zur missionarischen Präsenz des Evangeliums nutzen
Ich werde gelegentlich gefragt, was ich mir vom "Jahr der Bibel" 2003 erhoffe. Dazu gäbe es viel zu sagen. Doch nenne ich einen Gesichtspunkt, der mir am Herzen liegt: Es gilt, die Kernaussage der Bibel, gleichsam ihre Mitte den Menschen von heute zu erschließen. Das greift noch einmal das Stichwort "Elementarisierung" auf.
Von zwei berühmten jüdischen Lehrern des Altertums wird Folgendes berichtet: Ein junger Mann suchte die beiden Gelehrten auf und bat die beiden, sie sollten ihm das Gesetz des Mose in der Zeitspanne erklären, in der er auf einem Bein stehen könne. Der eine Gelehrte, Schammai, wies ihn unwillig ab. Der andere Gelehrte, Hillel, antwortete ihm mit der bekannten "Goldenen Regel": Was du nicht willst, was mir dir tut, das füge auch keinem anderen zu! Wir brauchen heute Christen, die zu solch prägnanten Auskünften fähig und willig sind.
Das Zentrum unseres Glaubens ist Jesus Christus, und zwar als der, der - um es einmal verkürzt auf "Hillel?sche Art" so zu sagen - sich selbst "loslässt" und der mich ermuntert, mich im eigenen "Loslassen" selbst zu gewinnen. Selbstbindung, um frei zu werden - wie ein Bergsteiger, der mit Hilfe eines Kletterseiles Höhe und so neue Horizonte gewinnt. Wir brauchen eine Konzentration auf dieses Zentrum unseres christlichen Glaubens. Diese Mitte wäre in immer neuen Variationen und Zugängen zu erschließen, verbal und nonverbal. Weil aber gerade die kirchlichen Worte oftmals so verbraucht und abgenützt sind, auch die biblischen Worte, brauchen wir darüber hinaus auch so etwas wie eine Verfremdung der Botschaft des Evangeliums im positiven Sinn. Wir brauchen sprachliche und erfahrungsgesättigte Zugangswege zu seiner Herzmitte, die neu zum Hören und Begreifen einladen.
Die Art und Weise der Verkündigung Jesu sollte uns nachdenklich machen. Jesus hat ja merkwürdige Geschichten erzählt. Es ist erstaunlich, welch säkulare, ja unfromme Materie Jesus als Bildmaterial für seine Gleichnisse verwendet: Schatzgräbergeschichten, Geschichten von Hochzeiten und Festgelagen, Räuberpistolen von Wegelagerern, Tricks von Verwaltern, die ihren Kopf aus der Schlinge ziehen wollen, Geschichten von Hausfrauen, die mit dem Besen nach verlorenen Münzen suchen, und Kaufleuten, die scharf sind auf kostbare Perlen usw.
Das Jahr der Bibel kann unsere Phantasie wecken, uns aus der Erfahrung heutigen Lebens einander neue "Reich-Gottes-Geschichten" zu erzählen. Volkenroda übrigens ist für mich eine solche Geschichte.
Der Bibel geht es ja um Welt- und Lebensdeutung. Es geht um Horizonterschließung über das Vorfindliche und Augenscheinliche hinaus. Es geht um eine Einladung, sich selbst in dem Licht zu sehen, das Gott uns angezündet hat. Dieses Licht hat einen Namen: Jesus Christus. Letztendlich bezeugt die ganze Bibel, auch die Schriften, die vor Christi Geburt verfasst sind, was Gott den Menschen sagen will: "Du bist geliebt und gewollt - mehr als Du meinst". Davon gilt es zu reden - noch mehr: Das gilt es zu feiern.
Ich breche hier ab. Freilich kann ich nicht schließen, ohne nochmals meinen Dank all denen zu sagen, die das "Glaubensbiotop Volkenroda" tragen - denen vor Ort, die dort ihr Leben investieren und so "Zukunftsarbeit" leisten, aber auch all denen in der Kommunität, die diese Arbeit der Geschwister in Volkenroda ermöglichen.
Bei Begegnungen und Gesprächen in Volkenroda lerne ich, dass es für uns Christen heute auf drei grundlegende Haltungen ankommt: demütiges Selbstbewusstsein, sanfte Entschiedenheit und gelassenes Engagement. Nur auf den ersten Blick scheinen sich diese jeweiligen Verknüpfungen zu widersprechen. Beim genauen Hinschauen zeigt sich in diesen Zusammenstellungen das Paradoxe unseres Glaubens. Ich meine, diese Grundhaltungen auch an Jesus, dem "Urheber und Vollender des Glaubens" (Hebr 12,2) zu entdecken.
Website des Klosters Volkenroda