Textdokumentation
Erfurt war vor kurzem Zeuge eines furchtbaren Verbrechens. Ein 19-jähriger Schüler ermordet aus schwer erklärbaren Motiven 16 Menschen in seiner Schule: Lehrer, Mitschüler, eine Angestellte, einen herbeigerufenen Polizisten. Die Stadt und die Menschen weit über Erfurt hinaus waren entsetzt und fassungslos. Die Anteilnahme am Leid der unmittelbar betroffenen Familien war überwältigend, aber auch die Hilflosigkeit, dieser Anteilnahme Ausdruck zu verleihen.
Als sich die Nachricht von dem Geschehen in der Gutenbergschule verbreitete, suchten viele spontan den Dom auf. Sie entzündeten im und vor dem Dom Kerzen, legten Blumen nieder. Später kamen dazu Bilder der Ermordeten und schlichte handschriftliche Notizen, in denen die Klage, das bohrende Fragen nach dem Warum, die Mittrauer der Bevölkerung bewegend zum Ausdruck kamen. Am Tage des offiziellen Traueraktes für die Ermordeten kamen zum ökumenischen Gottesdienst auf dem Domplatz an die Hunderttausend Menschen, viele sicher darunter, die nie oder äußerst selten einen Gottesdienst aufsuchen. Dieses Phänomen wurde mir auch aus vielen anderen Orten Thüringens berichtet: Die Kirche als Ort einer weithin religionslosen Bürgerschaft, die wie selbstverständlich den sakralen Raum in Anspruch nimmt, gemeinsam bewegende Anliegen, hier die Trauer und das Nicht-Fassen-Können des Geschehenen zum Ausdruck zu bringen. Vielleicht darf man sogar sagen: auf diese Weise das Unfassbare und für sie Unerklärliche zu bewältigen.
Ich beginne meine Ü;berlegungen zu dem mir aufgetragenen Thema mit dieser Erfahrung, weil sie mir einen bemerkenswerten Vorgang anzuzeigen scheint, von dem die Kirchen in unserem Raum selbst überrascht sind. Eine weithin dem christlichen Gottesglauben und kirchlichem Leben entfremdete Bevölkerung hat Erwartungen an die Kirchen. Sie sucht nicht das, was sich Pfarrer im Stillen erhoffen: den Kircheneintritt, den Einstieg ins "Mitmachen" in der Gemeinde, aber ich zögere zu sagen, dass die Menschen nur schnellen Trost wollen oder - wie damals in den Wendejahren 89/90 - nur einen geschützten Raum für politischen Protest suchten. An die Kirchen werden Erwartungen gerichtet, vielleicht nicht ausdrücklich, sicherlich sehr diffuse und wenig konturierte Erwartungen. Ich fasse sie einmal in die Worte: "Liebe Christen, lasst uns bitte etwas sehen von dem, was ihr in dürren Worten und merkwürdigen Zeremonien in euren Kirchen beschwört, gebt uns Anteil an einem Geheimnis, einer Hoffnung, einer Sehnsucht jenseits der Dinge, die wir tagtäglich als letzte Erfüllung präsentiert bekommen!" Ich wage zu sagen: Auf der Talsohle einer radikalen Entchristlichung in der Breite der Gesellschaft erwacht ein neues Suchen nach dem Gottesgeheimnis.
Ich soll in gebotener Kürze etwas zu Theologie und Kirche im ostdeutschen Raum aus katholischer Sicht sagen. Wenn ich mit der soeben angedeuteten Erfahrung beginne, lässt das schon die Zielrichtung meiner Ausführungen erkennen. Es geht mir weniger um ein säuberliches Referieren dessen, was da alles theologisch und kirchlich im katholischen Raum zwischen Werra und Oder aus den letzten Jahrzehnten vermerkenswert ist. Der Wanderer, der zurückblickt, hat auch im Zurückschauen den weiteren Weg im Sinn. Ich möchte mit Ihnen zusammen auf Erfahrungen aus unserer jüngsten theologischen und kirchlichen Vergangenheit schauen, um daraus Wegweisung für heute und morgen zu gewinnen.
Auch für unsere katholische Kirche im Osten Deutschlands ist eine "Reinigung des Gedächtnisses" angesagt, um einmal diesen Ausdruck unseres Papstes zu gebrauchen, mit dem er im Jubiläumsjahr sein nicht unumstrittenes Schuldbekenntnis im Namen der Kirche ablegte. Es steht ein vertieftes Nachdenken darüber an, "worin eigentlich unser Versagen auf katholischer Seite bestanden hat", wie Kardinal Georg Sterzinsky schon 1990 hellsichtig formuliert hat. Er wollte damit sicherlich nicht leugnen, dass es auch in den hiesigen Gemeinden Glaubenstreue und Bekennermut gegeben hat. Ich vermute einmal, er wollte einfach die Mahnung des Konzils beherzigen, das bekanntlich die Kirche, die "stets der Reinigung bedürftig" ist, auffordert, "immerfort den Weg der Buße und Erneuerung" zu gehen (LG 8) , wobei - unter ökumenischem Aspekt - immer zuerst bei "der eigenen katholischen Familie" anzufangen ist (UR 4).
Ich verstehe mich im folgenden also nicht zuerst als Chronist, sondern als ein Kommentator, der freilich selbst in die kommentierten Geschehnisse involviert ist. Das macht bekanntlich vorsichtig.
Ich gliedere meine Ausführungen in zwei Gedankengängen:
- Die Aufgabe, in Mitteldeutschland katholische Ortskirche zu werden;
- Christ- und Kirche-sein angesichts und mit "den anderen".
I. Die Aufgabe, in Mitteldeutschland katholische Ortskirche zu werden
1. Es muss sehr deutlich gesagt werden: In jenem Osten Deutschlands, der hier zu betrachten ist, war die katholische Kirche vor 1945 nicht "Minderheitenkirche", sondern sie war - bis auf einige wenige konfessionelle Inseln - in diesen Ländern und ihrer Bevölkerung nach der Reformation erloschen. In einer Studie über den Katholizismus der letzten zwei Jahrhunderte in Halle/Saale wird ein katholischer Seelsorger dieser Stadt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Bemerkung zitiert, "dass der gute Katholik ein geborener Hallenser nicht sein könne" (was den in Halle geborenen Kardinal Jäger von Paderborn sicher nicht erfreut hätte!).
Mein Lehrer Heinz Schürmann berichtete aus seiner Bernburger Vikarszeit, dass innerhalb einer Generation ca. ein Drittel der zugezogenen Katholiken der katholischen Kirche wieder verlorengingen. Die Gebiete des mitteldeutschen Raumes waren gleichsam ein "Massengrab" des Katholizismus. Die wenigen Gemeinden konnten nur vom Zuzug aus katholischen Stammgebieten leben. Nicht umsonst hatte Bischof Legge, seit 1932 Bischof von Meißen, den Wahlspruch: "contra spem in spem credere" (Röm 4,18). Es war eine pastorale Devise jener Zeit, die zugezogenen Diasporakatholiken aufzufordern, mit ihrer katholischen Heimat verbunden zu bleiben, weil nur so nach menschlichem Ermessen es möglich erschien, dass sie katholisch bleiben würden.
Es ist bekannt, was dann nach dem Ende des Zweiten Weltrieges im Osten Deutschlands geschah. Aus Schlesien, Ostpreußen und dem Sudetenland strömten Tausende von Katholiken in den hiesigen Raum ein. Gemeinden wurden ausgebaut, neue Gemeinden und Seelsorgestationen eingerichtet. Eine gewaltige, noch heute staunenswerte pastorale Auffangarbeit angesichts der Flüchtlingsmassen wurde geleistet, die höchsten Respekt verdient. Nicht vergessen sei die beachtliche caritative Arbeit, die nicht nur den Katholiken zugute kam, sondern darüber hinaus vielen von Flucht und Vertreibung Betroffenen. Für viele war die Kirche und die sich um den Altar sammelnde Gemeinde nicht nur geistlicher, sondern auch menschlicher Halt in aller Verzweiflung und Not. Das alles ist z. T. noch in Erinnerung bzw. auch gut dokumentiert und braucht hier nicht entfaltet werden. Aber das alles gehört zu den rühmenswerten Dingen der jüngsten Seelsorgsgeschichte unseres Raumes.
Es ist auch bekannt, wie die Entwicklung weiterging. Sehr bald, nahezu kontinuierlich, wenn auch in unterschiedlichen Schüben vor 1953, dann wieder bis zum Mauerbau 1961 und selbst danach setzte die Abwanderung der Katholiken nach dem Westen ein. Ich erinnere mich noch an die hochgemute Hoffnung so mancher schlesischer Priester, die etwa im Südthüringischen nach dem Kriege meinten, ein zweites katholisches Schlesien aufbauen zu können. Diese Hoffnungen trugen nicht lange. Die politischen Entwicklungen und die Abwanderung der Katholiken, aber auch die weiteren Säkularisierungsschübe im Verbund mit der ideologischen Repression des alten Systems zwangen bald den verbleibenden und ständig schrumpfenden Gemeinden eine andere Grundgestimmtheit auf. Und diese sagte: "Lasst uns zusammenrücken und uns gegenseitig stärken. Wir müssen überwintern. Die Zeiten werden auch wieder einmal besser werden!" So oder ähnlich dachten viele, zumindest unter der Generation, die mich in meiner Kindheit kirchlich prägte.
2. Wurde es aber nach der politischen Wende "besser" in dem Sinne, wie damals gedacht wurde? Hat nicht gerade die politische Wende und die danach einsetzende Diskussion eine tiefer gehende Anfrage an unser Selbstverständnis als katholische Christen und Kirche in der DDR bewusst werden lassen, die in den DDR-Jahrzehnten letztlich nicht oder zumindest ungenügend beantwortet worden ist? Es ist sicherlich verständlich, dass in Zeiten der Bedrückung und Repression - und das waren die ersten Jahrzehnte der DDR-Zeit in besonderem Maße - ganz andere Fragen für die Kirche und den einzelnen Katholiken im Vordergrund stehen als jene, die wir heute im Rückblick auf jene Zeit stellen können. Damals ging es um die Sicherung der grundlegenden Lebensvollzüge der Kirche, um die Stärkung und den Schutz des einzelnen Christen und die Abwehr noch weiterreichender Angriffe auf Glauben und Kirche. Ich denke nur an das damalige Bildungssystem (Stichwort: Jugendweihe), an die Arbeits- und Berufswelt (Stichwort: Karrieremöglichkeiten durch Kirchenaustritt und Parteieintritt) und die daraus für den Katholiken sich ergebenden Konfliktfelder.
Die Pastoralsynode in Dresden (1973-75) hat in Anknüpfung an das Konzil angesichts der veränderten Zeiten hilfreiche Antworten auf Christsein und Kirchesein gegeben. Das Dokument "Glaube heute" und der Text "Der Christ in der Arbeitswelt" enthalten hilfreiche Hinweise auf ein auch unter DDR-Bedingungen lebbares Christ- und Kirchesein, die auch heute noch bedenkenswert sind. Auch der Beschluss "Diakonie der Gemeinde" ist erwähnenswert. Er versuchte die enge Verbindung von institutionellem caritativen Handeln und den Pfarrgemeinden zu stärken, eine Aufgabe, die sich meines Erachtens in der Gegenwart verstärkt stellt. Caritas ohne Ortskirche wird Sozialkonzern, und Ortskirche ohne Caritas verliert die Bodenhaftung. Ich sehe übrigens gerade in dieser engen Verknüpfung von Caritas und Ortskirche - bei allen Schwierigkeiten, die auch bei uns vorhanden waren - ein Proprium des DDR-Katholizismus. Gerade über die Arbeit der Caritas und ihrer Einrichtungen sind in den DDR-Jahrzehnten unzählige Nichtchristen mit Kirche in Berührung gekommen, und durch die in der Caritas arbeitenden Frauen und Männer mit einem lebendigen, überzeugenden Gottesglauben.
In diesen Jahren nach dem Konzil und in der Phase, die Impulse des Konzils in den damaligen östlichen Jurisdiktionsbezirken umzusetzen, artikulierte sich schon ansatzweise jenes "demütige Selbstbewusstsein", das aus der Erfahrung erwuchs, sich in einem kirchenfeindlichem Umfeld durchaus behaupten zu können, ja dort - zumindest auf unterer Ebene und im kleinen Lebensalltag - Anerkennung und Respekt auch von anderen, manchmal sogar von den Genossen der unteren Leitungsebene zu erfahren. Ich erinnere an das Pastoralschreiben der Bischöfe an alle Seelsorger "Katholische Kirche im sozialistischen Staat" von 1986 und den aus der gleichen Grundhaltung geschriebenen gemeinsamen Hirtenbrief "Kirche - mit den Menschen und für die Menschen" von 1988, der zu einer Öffnung auf die nichtchristliche Umwelt hin ermunterte. Dort zeigte sich eine Besinnung auf den Weltauftrag von Kirche auch unter Verhältnissen politischer Unfreiheit.
Unvergessen ist mir und vielen von Ihnen sicher auch das Katholikentreffen 1987 in Dresden, weniger wegen der einzelnen Veranstaltungen als vielmehr wegen der davon ausgehenden Botschaft, Glaube und Kirchesein nicht zu konservieren, sondern als Sendung zu verstehen. In dem vorangehenden kleinen Katholikentreffen mit seinen z. T. kontroversen Debatten zeigte sich, dass die in Teilen der Gemeinden, nicht nur der Studentengemeinden oder des "Aktionskreises Halle" vorhandenen drängenden Fragen nach der Rolle von Kirche in der damaligen Gesellschaft und nach Antworten auf neue Fragen der Zeit ihren Widerhall fanden.
Hier ist dankbar an den Beitrag der Professoren des Erfurter Studiums zu erinnern, die geduldig und beharrlich, durchaus auch kritisch, aber immer in der Haltung einer selbstverständlichen Grundsolidarität mit der Kirche sich strittiger Themen annahmen und diese theologisch und pastoral zu vermitteln suchten. Ich denke nur an das dornenreiche Feld ethischer Fragestellungen (Stichwort: Ehemoral, "Humanae vitae"), das uns im Osten nie so in entgegengesetzte kirchliche Lager spaltete wie das andernorts manchmal geschah. Hier darf sicher auch einmal der persönliche Beitrag von Professor Wilhelm Ernst hervorgehoben werden, der ja schon in der DDR-Zeit den nicht einfachen 2. Teil des katholischen Erwachsenenkatechismus im Grundtext verfasst hat. Vermutlich war es bezeichnend, das gerade ein Moraltheologe aus Erfurt eingeladen wurde, sich dieser heiklen Materie anzunehmen. Die Deutsche Bischofskonferenz hatte das Vertrauen, in der Erfurter Theologie sowohl Sachverstand als auch kirchliche Anbindung vorzufinden. Beides an einer Fakultät beisammen zu haben ist nicht immer selbstverständlich!
Um wieder auf die Entwicklung dieser Jahre vor der Wende zurückzukommen: Die hier nur kurz umrissene Entwicklung hat dann letztlich, nach manchem oberhirtlichen Bedenken, doch auch die volle, verantwortliche Teilnahme unserer Kirche an Vorbereitung und Durchführung der Konziliaren Versammlungen in Dresden und Magdeburg 1988/89 möglich gemacht. Dieses Signal ist damals von vielen mit Recht als Durchbruch zu einem veränderten Verhalten der katholischen Kirche verstanden worden. Unsere Erfurter Hochschule mit ihren Professoren - ich nenne einmal ausdrücklich Professor Konrad Feiereis und Professor Lothar Ullrich - hat damals sehr geholfen, diese Öffnung unserer Kirche auf breitere gesellschaftliche Fragestellungen hin theologisch zu begleiten.
Ich gebe zu: Das alles waren erste Schritte. Die Rahmenbedingungen für kirchliches Leben haben sich dann ganz anders entwickelt. Doch bin ich im Nachhinein dankbar, dass schon vor 1989 die Weichenstellung für ein neues Selbstverständnis von Christsein und Kirche getätigt wurde, das sich deutlich von der alten Strategie des Einigelns und Ü;berwinterns abhob.
3. Dieser z. T. schmerzliche und spannungsreiche Lernprozess sollte heute nicht vergessen werden. Aus diesen Erfahrungen gilt es zu lernen. Ich bringe es auf diese Einsicht: Kirche kann und darf niemals für sich selbst dasein wollen. Kirche bleibt nur Kirche, wenn sie alle Menschen im Blick behält, nicht nur die Getauften und Gefirmten. Ansonsten verfehlt sie ihren Auftrag.
Ich gestehe, dass mich bei der Frage, ob wir hier in Thüringen ein eigenes Bistum gründen (oder besser: neubegründen!) sollten, diese Fragen nach der "Ortskirchen-Fähigkeit" dieses Thüringer Raumes sehr beschäftigte. Haben wir hier im Osten die theologische und pastorale "Reifeprüfung" als Kirche Jesu Christi schon bestanden? Sind wir wirklich aus dem Zustand einer Zuzugskirche in den Stand einer - zugegeben kleinen, aber doch lebensfähigen Ortskirche hineingewachsen, die sich den Grundaufgaben einer Kirche vor Ort und einer Teilkirche im weltkirchlichen Ganzen einigermaßen zuversichtlich stellen kann?
Wer will darauf mit Sicherheit antworten? Bistumsgründungen sind immer Wagnisse. Erst die Zukunft wird zeigen, was tragfähig bleiben wird. Meine These lautet: Wir stehen immer noch - oder wenn man will: wieder - vor der theologischen und pastoralen Aufgabe, hier zwischen Werra und Oder Ortskirchen zu werden, diesmal freilich unter völlig anderen, nahezu entgegengesetzten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Mein Problem dabei ist weniger die immer wieder gestellte Frage nach der heiklen Balance zwischen Schwund und Zuzug von Katholiken, die angeblich in diesen geographischen Breiten erst kirchlich-katholisches Leben ermöglicht. Mein Problem ist vielmehr eben genau diese Frage selbst, weil in ihr noch eine Vorstellung mitschwingt, die von der Haltung des Ü;berwinterns geprägt ist. Der Blick ist dabei nach rückwärts gewandt, auf ein Bild von Kirche, das so - wie etwa vor dem letzten Krieg oder auch in den Vorwendejahrzehnten - bestimmt nicht festzuhalten oder gar wiederherstellbar ist. Urteile ich zu ungerecht wenn ich sage, dass wir weithin insgeheim noch nicht richtig unsere eigenen, von uns als allein gültig erklärten Kirchenbilder "losgelassen" haben?
Unvergessen ist vielen noch der Priester, Seelsorgeamtsleiter und Bischof Hugo Aufderbeck. Er hat ja die Theologie und Pastoral der mitteldeutschen Diaspora nachhaltig geprägt. Auch ich verdanke seinem Wirken sehr viel. Was ich an ihm geschätzt habe, war seine Lernbereitschaft und seine Offenheit für Neues. Er war, natürlich angestoßen vom Konzil, aber noch mehr von seiner biblischen Grundorientierung im Denken, ein Theologe und Seelsorger, der ständig an den Quellen Maß zu nehmen suchte. Er interessierte sich für jene Zeiten der Kirchengeschichte, in denen kulturelle Umbrüche oder Notsituationen notwendig den Blick auf das Wesentliche und Zentrale des Kircheseins lenkten. Darum schätzte er einen Mann wie Johann Michael Sailer, der nach dem Zusammenbruch der Reichskirche am Ende des 18. Jahrhunderts neue Wege für die Seelsorge zu bahnen suchte. Noch kurz vor seinem Tod hat sich Aufderbeck mit einer Monographie beschäftigt, die den liturgischen, nichteucharistischen Dienst der Franziskanerminoriten an den verstreuten Christen im türkisch besetzten Serbien und Montenegro zum Inhalt hatte. Wir kennen ja sein Engagement für das neue, bisher nicht vorgesehene Amt der "Diakonatshelfer", das er mit dem Segen Roms bei uns installierte. Sein "Aufriss einer Pastoraltheologie", den Franz -Georg Friemel aus dem Nachlass Aufderbecks rekonstruiert hat, ist höchst bedenkenswert. Neben den klassischen Aufgabenfeldern des Gemeindeaufbaus ist dort auch von der Arbeitswelt, von den "Menschen vor den Toren der Kirche" und von den uninteressierten Nichtchristen die Rede.
Hugo Aufderbeck war ein pastoraler "Pfadfinder" im besten Sinne des Wortes. Ich erwähne ihn hier, weil uns sein theologischer und pastoraler Eros in den kommenden Jahren Pate stehen muss. Was wir brauchen, sind Ortskirchen und Gemeinden mit einer "biblisch-neutestamentlichen Grundgestimmtheit". Wir brauchen bekehrungswillige Christen und eine umkehrwillige Kirche.
Das führt mich zu meiner zweiten Ü;berlegung:
II. Christ- und Kirchesein angesichts und mit "den anderen"
In der berühmten Rede Papst Johannes XXIII., in der er seinerzeit das Konzil ankündigte und sich gegen die "Unglückspropheten" in den eigenen Reihen zur Wehr setzte, finden sich die folgenden Sätze: "In der gegenwärtigen Situation werden wir von der göttlichen Vorsehung zu einer allmählichen Neuordnung der menschlichen Beziehungen geführt. Sie wirkt mit den Menschen zusammen; aber sie verfolgt über deren Erwartungen hinaus ihren eigenen Plan. Alles, sogar was die Menschen dagegen tun, wendet sie zu dem, was für die Kirche das bessere ist."
Ich greife diesen Gedanken: "Christ- und Kirchesein in Beziehung mit anderen" für unser Thema auf, und zwar in zweifacher Hinsicht: im Blick auf die Begegnung mit den evangelischen Mitchristen hier vor Ort und mit den völlig kirchenfernen Mitmenschen, die uns neuerdings wieder näher auf den Leib rücken.
1. Ich frage mich manchmal, was denn der tiefere, gleichsam "heilsgeschichtliche" Sinn der Tatsache ist, dass nach 400 Jahren in dem früher rein protestantischen und heute natürlich säkular geprägten Raum Ostdeutschlands katholische Kirche wieder präsent ist. Die Begegnung mit evangelischem Christentum hat mich von Kindheit an geprägt. Meine diesbezüglichen Erfahrungen sind sicher typisch für viele katholische Biographien. Dankbar erwähne ich, dass vielerorts die nach Mitteldeutschland einströmenden Katholiken freundliche Aufnahme in evangelischen Kirchenräumen fanden. Ich selbst habe meine Primiz in der evangelischen Stadtkirche in Ilmenau feiern dürfen. Der Superintendent war Ehrengast beim Festessen.
Die konfessionelle Abtrennung war mit solchen Erfahrungen der Gastfreundschaft natürlich keineswegs überwunden. Als Katholiken blieben wir ja eingebunden in die allgemeinen Vorgaben des kirchenamtlichen Ökumenismus, der erst im Konzil zu einer entscheidenden Neuorientierung fand. Es ist das Verdienst wieder der Professorenschaft unserer Erfurter Hochschule, die theologischen Anstöße des Konzils auch über die ökumenischen Impulse hinaus aufgegriffen und für die Breite unserer Kirchengebiete im Osten fruchtbar gemacht zu haben. Der damalige Dogmatiker Professor Otfried Müller eilte sogar den Studenten eigens mit Vorlesungen in die Pastoralseminare nach, um ihnen die neuen Akzente der Konzilstheologie, gerade auch das konziliare Kirchenverständnis, zu vermitteln. Eine Reihe von Fortbildungsseminaren, zahlreiche Werkwochen, Vorträge usw., die Klerus und Laien zu erfassen suchten, wurden damals durchgeführt. Hier ist auch dankbar der St. Benno-Verlag in Leipzig zu erwähnen, der trotz vieler Schwierigkeiten für die schriftliche Verbreitung neuerer theologischer Literatur sorgte, nicht zuletzt auch für andere osteuropäische Länder. Manchmal bedauere ich, dass es heute nicht mehr das "Theologische Jahrbuch" gibt, das Jahr für Jahr eine gediegene Ü;bersicht über neuere theologische Fragestellungen vermittelte. Erinnert sei auch an das "Theologische Bulletin", das im "Samisdat-Verfahren" hergestellt und innerkirchlich verbreitet wurde.
Das alles kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Manche Namen stehen einfach auch für eine theologische Linie, in der Exegese etwa die Namen von Heinz Schürmann und Wolfgang Trilling. Schürmann etwa hatte sich sehr für einen interkonfessionellen Arbeitskreis der DDR- Neutestamentler eingesetzt, der jahrelang arbeitete. Heinz Schürmann, Lothar Ullrich, Siegfried Hübner haben zusammmen mit anderen einen östlichen Ableger des bekannten "Jäger-Stählin-Kreises" angestoßen, der die Ökumene in unserem Raum sehr befruchtet hat. Dieser Kreis besteht noch heute. Erinnert sei auch an das bundesdeutsch-ostdeutsch-polnische Systematikertreffen, das wiederum von Lothar Ullrich mit Unterstützung von Kardinal Alfred Bengsch eingerichtet wurde. Auch dieser Kreis ist heute noch am Arbeiten. Manche andere Namen und Initiativen, auch außerhalb Erfurts wären hier gerechterweise zu erwähnen. Für Eingeweihte sei hier wenigsten noch an Pfarrer Dr. Schimke erinnert und sein konspiratives theologisches Arbeiten.
Mir kommt es darauf an zu zeigen, dass die theologische Öffnung, die das Konzil und die nachkonziliare Entwicklung mit sich brachte, in diesem Falle die neue Sicht auf nichtkatholisches Christentum, nicht nur bereitwillig aufgegriffen und umgesetzt wurde, sondern dass der alles Handeln bestimmende hermeneutische Horizont für diese Umsetzung die Existenz unserer kleinen katholischen Ortskirchen inmitten eines bodenständigen evangelischen Christentums war. Speziell hier im mitteldeutschen Raum, in den Kernländern der Reformation, bildete sich ein Miteinander der Kirchen sowohl vor Ort als auch auf Leitungsebene, das konstruktiv und vertrauensvoll war. Nicht zuletzt war es natürlich auch der gemeinsame Druck des ideologischen Staates, der vor Ort und im Leitungsbereich für einen weitgehenden "Schulterschluss" sorgte.
Wenn ich das so sage, soll damit nichts idealisiert werden. Es gab bekanntlich gerade im Blick auf das Verhalten gegenüber dem DDR-Staat und seinen Repressionen, aber auch seinen Versuchen, uns in den Kirchen zu differenzieren und gegeneinander auszuspielen, unterschiedliche Ansichten. Das Ringen um die richtig vestehbare, aber doch auf Dauer wohl missverständliche Formel des DDR-Kirchenbundes "Kirche im Sozialismus" sei nur als Stichwort genannt. Doch war das für mich als Bischof nie ein Hindernis, mich etwa mit den evangelischen Bischöfen Thüringens immer neu zu verständigen. Wir wussten darum: Auch wenn wir manchmal unterschiedlich agierten, im Zentralen, im Bemühen um ein lauteres Gottes- und Christuszeugnis, wussten wir uns eins. Zudem ist die Erfahrungsebene der einzelnen Katholiken im sozialistischen Alltag noch einmal eine andere gewesen. Dort gab es zwischen gläubigen evangelischen und katholischen Christen ohnehin angesichts der Verhältnisse eine Sympathie-Gemeinschaft, die den Blick auf das "Fundament des christlichen Glaubens" (UR 11) lenkte, auf den Geist Gottes, der auch im Lebenszeugnis des Christen der anderen Kirche erfahrbar wurde.
Das ist wohl die kostbarste ökumenische Erfahrung unseres Diasporakatholizismus: Den "anderen" nicht allein von der eigenen konfesssionellen Warte aus zu sehen und zu beurteilen, sondern ihn zwar als den anderen wahrzunehmen, der er ist, aber der dennoch ebenso geliebtes Kind Gottes ist wie ich selbst, der Bruder, der Schwester in Christus ist, dem Gott in Taufe und Glaube Anteil an seinen Verheißungen gibt, den gleiche Hoffnungen beflügeln und gleiche Ängste umtreiben.
Ob darin nicht die providentielle Absicht, gleichsam die Heilspädagogik Gottes bestand, uns dies "auf mitteldeutsch" lernen zu lassen? Meine Frage ist freilich: Haben wir aus diesen Vorgaben Gottes auch wirklich alles, was möglich war, gemacht? Ich habe daraufhin noch einmal den Beschluss der Dresdener Synode "Ökumene im Bereich der Gemeinde" gelesen. Ist das alles schon eingelöst, was da steht? Wir könnten hier noch an manch andere Aktivitäten in der DDR-Ökumene erinnern, von den zahlreichen Kontakten und "vertrauensbildenden Maßnahmen" vor Ort, zwischen Bistümern und Landeskirchen, zwischen Ausbildungsstätten und Bildungseinrichtungen, bis hin zu den schon erwähnten "Ökumenischen Versammlungen" 1988/89, die ohne die Vorarbeit des Dresdener Stadtökumenekreises und seines Protagonisten Michael Ullrich nicht denkbar gewesen wären. Sind wir vielleicht aber doch - nicht dem "anderen" - sondern Gott etwas schuldig geblieben, dort, wo wir uns schließlich doch wieder ängstlich auf das je Eigene und scheinbar Unaufgebbare zurückgezogen haben?
Wer will hier urteilen? Hier ist die je eigene Gewissenserforschung angesagt. Vor allem aber im Blick auf den weiteren ökumenischen Weg sollten wir hier im Osten die besondere Verpflichtung verspüren, aus geschenkten guten Erfahrungen und wegen mir auch aus versäumten Gelegenheiten jetzt das Beste zu machen. Natürlich leben wir nicht in einem von der gesamtkirchlichen Entwicklung isolierten Bereich. Was in Genf, Straßburg oder Rom, was bei der EKD und bei der Bischofskonferenz gedacht und geschrieben wird, tangiert auch unsere Vor-Ort-Ökumene. Doch enthebt uns das nicht der Pflicht, gerade auch die Theologie, die an dieser Erfurter Fakultät gelehrt wird, in einen der Ökumene verpflichteten Kontext zu stellen. Wir setzen damit etwas in veränderter Situation fort, was diese Hochschule auch bisher geprägt hat: Theologie im ökumenischen Horizont.
Doch auch andere Stichworte der Ökumene sind hier in Thüringen realistische Aufgaben: an der gegenseitigen kirchlichen Transparenz festhalten; die ökumenische Bildung befördern, an der Selbstreinigung unserer Kirchentümer arbeiten; geistliche Erfahrungen austauschen und verhindern, dass bisher Erreichtes und Bewährtes von der nachfolgenden Generation wieder vergessen wird. Uns allen ist aufgetragen, gemeinsam das Humanum zu verteidigen, sich schützend vor jene zu stellen, die keinen Anteil am allgemein wachsenden Wohlstand und Fortschritt haben usw. Ich sehe, dass Diakonie und Caritas im praktischen Handeln hier erfreulicherweise den Kirchen zeichenhaft vorangehen. Es gilt Zeichen zu setzen, die das gewachsene theologische wie menschliche Vertrauen zueinander anschaulich machen. Ich denke beispielsweise an meine Präsenz beim evangelischen Ordinationsgottesdienst in Eisenach und das Grußwort des jeweiligen Landesbischofs bei der Priesterweihe im Dom. Auch der gemeinsame Trauergottesdienst für die Opfer in der Gutenbergschule war in sich ein wichtiges Zeichen: Die Christen gehören zusammen, auch wenn sie sich aus verschiedensten Gründen damit noch schwer tun. Dieses Signal in die säkulare Öffentlichkeit hinein ist entscheidend.
2. Ich spreche noch den mir wichtigen anderen Aspekt an, zumal auch der aus einer ökumenischen Verantwortung heraus besondere Dringlichkeit erhält. Zusammen mit den evangelischen Christen stehen wir Katholiken als die "Wenigen" den "vielen" Nichtglaubenden gegenüber. Wir leben ja längst nicht mehr in einer konfessionellen Diaspora, sondern gemeinsam in einer Diaspora des weltanschaulichen Pluralismus, der die Breite auch der hiesigen Bevölkerung ergriffen hat.
Wir sind gewohnt, hier sofort mit dem Missionsgedanken zu reagieren. Das ist durchaus richtig und erfreulicherweise jetzt auch wieder mehr im Blick beider Kirchen und wacher Christen. Doch möchte ich gleichsam noch zu einer notwendigen Vorstufe der Selbstbesinnung aufrufen: Es könnte ja sein, dass nicht nur wir für die "vielen" anderen eine Botschaft haben, sondern das u. U. die "Vielen" uns Kirchenleuten etwas zu sagen haben, etwas, was uns das Evangelium, die Heilsabsichten Gottes, der ja auf die verwunderlichste Weise zu seinem Volke sprechen kann, besser und tiefer erkennen lässt. Siegfried Hübner, Rahner-Schüler und Mitglied des für den kirchlichen Osten wichtigen Leipziger Oratoriums, hat einmal in diesem Zusammenhang formuliert: "Das Verhältnis zwischen den "Vielen" und den "Wenigen" ist als ein "dialogisches" zu bestimmen" (Der säkularistische Mensch im Licht des Glaubens, in: FSchr. K.Feiereis, EThS 71, 293-312, hier 304). Gemeint ist damit ein Dialog, der das je Eigene erst im Licht einer Anrede, eines Du, eines "Anderen" erkennbar werden lässt.
Meines Erachtens liegt hier das größte Versäumnis von Kirche und Theologie in den DDR-Jahrzehnten, dass der wachsende Massenatheismus (oder ist er vielleicht nur Kirchenfremdheit, nur ein existentieller Agnostizismus?) nicht stärker als herausfordernde Anfrage an uns Christen und Kirchen empfunden worden ist. Aber vielleicht urteile ich ungerecht. Die Eltern, deren Kinder vom Gottesglauben und kirchlicher Praxis Abschied nahmen, haben darunter gelitten und sich daran abgearbeitet. Hat unsere Verkündigung, unsere Seelsorge sie dabei genügend gestützt? Haben wir Wege gesucht zu den Menschen, die mit unserem kirchlichen Reden und Agieren nichts mehr anfangen konnten? Suchen wir sie jetzt - und zwar nicht im Habitus dessen, der alles weiß und richten kann, sondern der in Solidarität mit ihrer "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst" (GS 1) nach dem Gott fragt, der auch das Heil dieser Menschen will? Das Konzil sagt zumindest: "Was sich nämlich an Gutem und Wahren bei ihnen findet, wird von der Kirche als Vorbereitung für die Frohbotschaft und als Gabe dessen geschätzt, der jeden Menschen erleuchtet, damit er schließlich das Leben habe" (LG 16). Das sind steile Sätze, die aber in sich Sprengkraft für eine andere Art von Kirchesein und Verkündigung beinhalten. Und schließlich müssen wir neu die Sätze bedenken, die in Gaudium et spes auch auf die Mängel unseres christlichen und kirchlichen Lebens hinweisen als Ursache für die gegenwärtige Gottesverdunkelung (GS 19 - 21), ohne dabei den selbstverschuldeten Anteil für Unglaube und Gottesferne bei vielen zu verkennen.
Ich breche hier ab. Aber die Intention meiner Fragen, die Rückblick und Ausblick in einem sind, ist deutlich geworden. Wir sind noch längst nicht dem Anspruch einer echt "kontextuellen Theologie" im Land der "religiös Unmusikalischen" gerecht geworden . Vermutlich können wir das katholischerseits auch nicht allein. Das ist eine Aufgabe aller Theologen zwischen Werra und Oder, und demnächst wohl auch zwischen Rhein und Isar. Auch aus diesem Grunde kämpfe ich um den Theologiestandort Erfurt. Nur müssen die hier Lehrenden und Lernenden sich diesem Standort auch wirklich aussetzen, mit Verstand und Herz, mit aller Kraft der Reflexion und in beispielhaftem Handeln zusammen mit denen aus der Schar wacher Christen, die sich nicht nur sammeln, sondern auch senden lassen wollen.
Im Errichtungsdekret der Kirchlichen Theologischen Fakultät Erfurt durch die römische Studienkongregation vom 22. Mai 1999 heißt es: "Sie (die Fakultät) dient ja dem Ziel, neben der akademischen Ausbildung der Alumnen die Präsenz der katholischen Theologie in der Kultur dieser Region in geeigneter Weise zu stärken und die Botschaft des Evangeliums auszubreiten." Ich füge hinzu: und dies angesichts der kirchenfernen, aber wohl nicht evangeliumsfernen Massen und zusammen mit allen Mitchristen aus der Ökumene!
Ausblick
Gelegentlich werde ich gefragt, ob wir denn aus dem Osten Deutschlands und unseren Erfahrungen nicht etwas für den weiteren gemeinsamen Weg der katholischen Kirche in Deutschland beizutragen wüssten. Ich bin dann immer etwas verlegen, weil mir vieles zu unbedeutend oder auch rein quantitativ vernachlässigbar erscheint, was uns katholischerseits in Theologie und Kirche geprägt hat.
Der katholische Theologe Karl-Heinz Ducke, einer der Moderatoren des "Runden Tisches" in der Wendezeit, jetzt Pfarrer in Jena, hat einmal ein etwas spitzes Bonmot im Blick auf das Ost-West-Gefälle formuliert. Auf das den Osten vom Westen Unterscheidende hin angesprochen hat er geantwortet: "Ach wissen Sie: Wir hier im Osten hatten kein silbernes Essbesteck, nur solches aus Alu. Aber die Bewegungen beim Essen - die waren die gleichen!"
In mancher Hinsicht trifft dieses Bonmot auch viele Phänomene im Bereich unseres kirchlich-katholischen Lebens. Es wurde versucht, alles "wie in einer richtigen Kirche" zu haben, aber vieles war eben sehr bescheiden und so manches fehlte auch. Wer nur flüchtig eine Bestandsaufnahme des kirchlichen Lebens im Osten macht, wird geneigt sein zu urteilen: "Katholische Kirche im Osten? - Vergeblicher Versuch, volkskirchlich Ü;berkommenes in Diasporaverhältnissen recht und schlecht aufrecht zu erhalten!" Ich gebe zu: Nicht wenige von den kirchlich Verantwortlichen dachten auch so, zumindest in den Jahren des kirchlichen Neuaufbaus nach den Kriege. Wer will es ihnen verübeln?
Wer jedoch versucht tiefer zu schauen, wird kostbare Elemente einer Christlichkeit und Kirchlichkeit entdecken, die durchaus etwas Zukunftsweisendes haben. In der "Innenansicht" zeigt sich ein verborgener Reichtum, der mehr als theologische Lyrik ist. Er ist untersetzt von konkreten Lebenszeugnissen, von tapferem Durchhalten, aber auch der bitteren Erfahrung von Vergeblichkeit, die sich dennoch nicht entmutigen ließ, die sich vielmehr der Bereitschaft Jesu zum "Loslassen" bis hin zur Lebenshingabe annäherte. Dieser geistliche Reichtum eines Diasporachristentums und einer Diasporapastoral ist gewichtiger als manches andere.
Als junge Theologen haben wir immer etwas gelächelt, wenn Bischof Aufderbeck, der geborene Sauerländer, sein berühmtes Psalmwort zitierte und uns auf den Weg mitgab: "Auf (dieses) herrliches Land ist mein Los gefallen!" Wir haben uns durchaus herrlichere Länder vorstellen können. Aber letztlich hat er uns mit seinem Blick des Glaubens doch angesteckt: Wenn es hier nicht gelingt, Kirche zu bauen - wo dann sonst? Diese Lektion Gottes haben wir gelernt. Wir können und dürfen nicht auf andere Zeiten hoffen, auf günstigere Gelegenheiten. Hier gilt es zu säen und zu pflanzen, auch wenn - nach menschlichem Ermessen - selbst mittel- oder langfristig wenig Ernteerfolg zu erwarten ist.
Vieles an geistlichen Einsichten haben wir Männern und Frauen zu verdanken, besonders auch aus den Orden, die uns diese Spiritualität des "Sich-Aussäen-Lassens" glaubwürdig vermittelt haben. Gern erwähne ich in diesem Zusammenhang auch die Namen von Spiritual Erich Puzik und Regens Paul Ramatschi aus Neuzelle, haben sie uns doch aufmerksam gemacht auf Gottes- und Kirchenerfahrungen, die nicht in einem imaginären Irgendwo, sondern im Hier und Jetzt dieser Ostsituation zu gewinnen waren. Heinz Schürmann wies uns angehende Seelsorger auf die Kreuzverlassenheit Jesu als tiefsten Quellgrund authentischen Kircheseins hin. Wo nicht mit Christus gestorben wird, kann auch nichts mit ihm auferstehen. Das österliche Licht auf alle Weltrealitäten zeigt sich erst dem, der bereit ist, mit Jesus Christus "loszulassen".
Manche meinen, mit solchen und ähnlichen Formulierungen werde nur ideologisch-mystisch verbrämt, was ohnehin zu erdulden ist. Ich bin da anderer Ansicht. Es gibt ein Loslassen, das freimachen kann. Man kann Armut zähneknirschend akzeptieren, man kann sie aber auch als Möglichkeit der Gleichgestaltung mit Christus ansehen. Ich lehne wertende Vergleiche und plakative Etikettierungen von Ortskirchen und regional geprägten Theologien ab. Aber soviel möchte ich doch sagen: Wir haben mit unserem "Alu-Besteck" durchaus authentisch Kirche gelebt. Deren Schattenseiten und Verengungen habe ich nicht verschwiegen. Vor allem habe ich auch die Aufgabe benannt, geschärft durch die Erfahrung, auch im Damals von Gott getragen zu sein, nun die neuen Herausforderungen für Theologie und Kirche phantasievoll und kreativ anzugehen. Sorgen wir nur dafür, "dass die Bewegungen die gleichen bleiben!"