Von Ministerpräsident a.D. Prof. Dr. Bernhard Vogel*
Elisabeth ist als Person, die in der Geschichte wirkt, nicht einer bestimmten Epoche zugehörig, doch lässt sich das Umwälzende und Erneuernde ihres Vorbilds nur erfassen, wenn man Elisabeth auch als eine zeitgebundene, von geistigen Strömungen und gesellschaftlichen Entwicklungen nicht unberührt gebliebene Persönlichkeit betrachtet. Gerade dass sie – gefestigt und bewegt durch ihren tiefen Glauben – mitten in der Welt stand und auf die geistigen und materiellen Nöte ihrer Zeit reagierte, macht vieles von Elisabeths bleibender Faszination aus.
Elisabeth wird am Beginn des 13. Jahrhunderts geboren – in ein Zeitalter hinein, das man viel später als "Hohes Mittelalter" bezeichnet hat: Von Frankreich aus beginnt sich die Gotik zu einem europäischen Baustil zu entwickeln; die Scholastik, deren Verwandtschaft zur gotischen Architektur die Kunstgeschichte nachgewiesen hat, verbindet Glauben mit Rationalität und Naturbetrachtung. Es entsteht eine weltlich geprägtere Kultur: Die Städte befinden sich im Aufschwung und, beginnend in Italien, bestimmen bald neben den Kirchen Kommunalpaläste die mittelalterlichen Stadtbilder mit. Auch der Adel löst sich von der vollständigen Dominanz der Kirche und schafft sich – insbesondere mit der gerade bei den Thüringer Landgrafen hoch im Kurs stehenden höfischen Dichtung – eigene gesellschaftliche Formen.Freilich aber ist das 13. Jahrhundert nicht nur von "lichtvoller Geistigkeit" erfüllt, wie der französische Historiker Jacques Le Goff geschrieben hat.
Es gibt auch viel Schatten: Der Streit zwischen Staufern und Welfen um den deutschen Thron, in dessen Verlauf Elisabeths Gatte Ludwig siebenmal die Fronten wechselt, ist seit 1198 in Gange und die universale Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papsttum steuert ihrer letzten dramatischen Phase entgegen. Allenthalben herrschen in den unteren Ständen bitterste Armut und Elend. Seit Mitte des Jahrhunderts erheben sich in den italienischen Städten die Unterdrückten. Der Verweltlichung der Kultur und diesseitigen Daseinsfreude stehen – weit verbreitet – Endzeitahnungen gegenüber, die 1212 im Kinderkreuzzug zu einer weiteren Fanatisierung des Kreuzzuggedankens führen. Religiös motivierte Gewalt erfährt einen neuen Höhepunkt, als 1208 ein Papst zum ersten Mal das Kreuz gegen häretische Gemeinschaften in der eigenen Kirche predigt.
Das 13. Jahrhundert lebt wie das Mittelalter insgesamt aus der Spannung von Diesseits und Jenseits. Trennen lassen sich beide Sphären noch lange nicht. Vielmehr bewegt die Menschen die Frage, wie der nun noch weiter aufgebrochene Gegensatz zwischen einer bejahter Welt und einem tief verwurzelten Jenseitsglauben zu überbrücken sei. Nicht zuletzt der vom Thüringer Landgrafenhof großzügig geförderte Wolfram von Eschenbach sucht in seinem Werk nach dem Lebensideal, "Gott und der Welt [zu] gefallen."Elisabeth, Königstochter und Herrin an einem der damals prächtigsten Fürstenhöfe Deutschlands, muss diesen Zwiespalt besonders tief empfunden haben.
Die Quellen schildern sie als standesbewusste Fürstin, die ihren Repräsentationspflichten gewissenhaft nachkommt und bei Abwesenheit Landgraf Ludwigs selbständig die Regentschaft führt. Gleichzeitig offenbart sich in vielfältigen karitativen Werken ihr Drang nach einer gottgefälligen Lebensweise. Nicht nur, dass sie 1226, als eine große Hungersnot ausbricht, die landgräflichen Kornspeicher öffnet und zur Linderung der akuten Not Kleider und Teile des fürstlichen Hausrats verkauft. Im Hospital für Kranke und Gebrechliche, das sie unterhalb der Wartburg einrichten lässt, pflegt und speist sie die Kranken sogar mit eigenen Händen – zum Entsetzen ihrer Umgebung.
Elisabeth taucht ein in die alle sozialen Schichten erfassende Armutsbewegung ihrer Zeit, die mehr fordert als fromme Gedanken. "Was Ihr einem der Geringsten unter euch getan habt, das habt Ihr mir getan", heißt es im Evangelium. Früh steht Elisabeth in Kontakt mit den Franziskanern, die nach einem ersten gescheiterten Versuch seit 1221 Stützpunke im deutschsprachigen Raum errichten. Nicht Weltverachtung, nicht einsiedlerische Bußfertigkeit, sondern tätiger Glaube als Hingabe an den nächsten wird das umwälzende, das Verhältnis von Glauben und Welt neu bestimmende Ideal eines geistlich inspirierten Lebens. Glaube ist auch Dienst an der Welt und vor allem an den Menschen. Elisabeth hat dieses Ideal – zumal als sie später in Marburg von ihren politischen Verpflichtungen entbunden ist – in radikaler Weise verwirklicht und vorgelebt.
*Prof. Dr. Bernhard Vogel, Jahrgang 1932, war von 1976 bis 1988 Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz
und von 1992 bis 2003 Ministerpräsident von Thüringen. Seit 2001 ist er, wie schon 1989 bis 1995,
Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.