Von Msgr. Dr. Peter Neher, Freiburg*
Mit dem Lebenszeugnis der heiligen Elisabeth verbinde ich den engagierten Einsatz für soziale Gerechtigkeit, für tiefe Mitmenschlichkeit und Selbstlosigkeit. Die heilige Elisabeth war eine Frau, die mit ungewöhnlicher Intensität lebte. Als Thüringer Landgräfin lehnte sie sich gegen ihr höfisches Umfeld auf, das sie oft als ungerecht empfand.
Als Grund ihres sozialen Engagements suchte sie die Kontemplation – erfüllt von dem Wunsch ganz eins zu werden mit Gott. In einer Biographie aus dem 14. Jahrhundert heißt es, dass sie sich nach der Arbeit mit den Kranken und Armen oft an einen Ort des Gebets zurückzog, um sich ganz darin zu versenken. Insofern war sie radikal, von der Wurzel her in Gott verankert und von da aus dem Menschen zugewandt.
1235 – nur vier Jahre nach ihrem Tod – sprach Papst Gregor IX. sie heilig. In der Urkunde ihrer Heiligsprechung hebt er hervor: "Sie hörte niemals auf, ihren Nächsten zu umsorgen. Immer bekannte sie sich zu dem wahren Glauben und weihte ihr Leben einer Frömmigkeit", in der ihre Liebe zu den Hilfsbedürftigen so sehr zum Ausdruck kam, dass sie sich wünschte, "immer solche Menschen um sich zu haben, denen man sonst aus dem Wege ging." Ihr Leben war geprägt von der einfachen und authentischen Art wie die Brüder des Franziskus das Evangelium ganz konkret gestalteten.
Die Konsequenz, mit der Elisabeth die Christusnachfolge lebte, ist eine Anfrage an mein eigenes Leben, an unsere Kirche und Gesellschaft. Inwieweit besitzt das christliche Ideal der heiligen Elisabeth und dessen kompromisslose Umsetzung für unser eigenes Leben und das Christentum heute noch Gültigkeit? Für den christlichen Glauben ist der Zusammenhang von Gottes- und Nächstenliebe zentral. "Wenn jemand Vermögen hat und sein Herz vor dem Bruder verschließt, den er in Not sieht, wie kann die Gottesliebe in ihm bleiben?"(1 Joh 3,17).
Eine Nachfolge Jesu Christi ohne Nächstenliebe ist nicht denkbar. Dabei ist jeder und jede eingeladen, die eigene spezifische Form zu finden und zu leben. Das Leben der heiligen Elisabeth ist dabei eine Ermutigung, auf den anderen zuzugehen und Grenzen, die man in sich hat oder beim anderen spürt, zu überwinden. Neues Leben entsteht, wenn Nachbarn plötzlich Kontakt miteinander aufnehmen und für einander da sind, oder wenn Menschen unterschiedlicher Herkunft aufeinander zu gehen und für das Recht und gegen das Unrecht eintreten.
Nächstenliebe als Folge der vorausgehenden Liebe Gottes ist jedoch nicht nur der Auftrag jedes Christen, sondern der ganzen Kirche. Sehr beeindruckend entfaltet dies Papst Benedikt in seiner ersten Enzyklika "Deus Caritas est". Dort unterstreicht er, dass der Dienst am Nächsten eine Berufung aller Gläubigen und der ganzen Kirche ist. "Die Kirche kann den Liebesdienst so wenig ausfallen lassen wie Sakrament und Wort." Erst in der Einheit von Diakonie, Liturgie und Verkündigung realisiert sich die Kirche in ihrer Grundbestimmung.
Eine Form der kirchlichen Caritas ist die organisierte Caritas mit ihren sozialen Diensten und Einrichtungen. Im Dienst unzähliger beruflich und ehrenamtlich tätiger Mitarbeitender in der Caritas realisiert sich ein Stück dieser Nächsten- und Gottesliebe. Die Mitarbeitenden der Caritas brauchen und haben viel Mut und Durchhaltevermögen, um Menschen in Not und Ausgrenzung zu begleiten und zu stärken. Mit ihrer Kreativität, Kompetenz und ihrer jeweiligen Persönlichkeit tragen sie dazu bei, dass Menschen sich angenommen fühlen und sich ihrer Fähigkeiten und Rechte bewusst werden können. Es geht dabei um eine Begegnung auf Augenhöhe, wo nicht der Helfende entscheidet, was für den anderen gut ist. Sondern der Helfende begleitet den anderen auf seinen jeweiligen Wegen und unterstützt ihn, sein Leben zu gestalten und in die Hand zu nehmen.
Genauso sind aber auch die beruflichen und ehrenamtlich/freiwilligen Mitarbeitenden auf Unterstützung, Anerkennung und Wertschätzung angewiesen.
Im Elisabethjahr geht es auch darum, nach den tieferen Dimensionen der Arbeit der Caritas zu fragen. Was trägt uns? Welche Werte sind uns wichtig? Warum tun wir das, was wir tun? Ich freue mich sehr, dass dieses Nachdenken an so vielen Orten, wo Elisabeth gelebt und gewirkt hat, geschieht. Dabei geht es auch darum zu schauen, wie wir als Caritas der Kirche, das, was uns trägt und motiviert, zur Sprache bringen können, so dass es Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Weltanschauungen nachvollziehen können.
Elisabeth stammt aus Ungarn und verbrachte die meiste Zeit ihres Lebens in Thüringen. Sie hat bei uns viel bewegt und ist für ganz unterschiedliche Menschen in vielen Ländern heute noch immer anziehend. Ihr Leben und Wirken ist eine wichtige Grundlage für ein Verständnis eines vereinten Europa, das sich gegen Armut und Ausgrenzung einsetzt und für soziale Gerechtigkeit eintritt.
Beeindruckend ist für mich, welche politische Wirkkraft die heilige Elisabeth erst vor wenigen Jahrzehnten hatte. Im September 1981 versammelten sich tausende Katholikinnen und Katholiken aus der gesamten DDR anlässlich des 750. Todestages der Heiligen zu einer großen Elisabeth-Wallfahrt auf dem Erfurter Domplatz. Unter den damaligen Bedingungen war dies nahezu ein Akt des Widerstandes!
Möge das Elisabethjahr auch 2007 eine ansteckende Wirkung haben und viele Menschen und die Kirche und ihre Caritas ermutigen, Nächstenliebe immer wieder zu wagen und zu leben.
*Msgr. Dr. Peter Neher, geboren 1955,
ist Präsident des Deutschen Caritasverbandes.