Von Pater Walter Heck SJ, Erfurt*
in der breiten Öffentlichkeit ist die heilige Elisabeth von Thüringen als sozial engagierte Landgräfin bekannt. Aber war sie auch eine Mystikerin?
Viele verbinden mit dem Begriff "Mystik" etwas Außergewöhnliches, Übertriebenes, Versponnenes; jedenfalls nichts "Normales". Und doch wird immer wieder der Satz von Karl Rahner zitiert: "Der Christ von Morgen wird ein Mystiker sein oder er wird nicht mehr sein." Was ist damit gemeint?
Es geht um eine Erkenntnis oder Ahnung von Gott aus der eigenen Erfahrung. Es geht nicht darum, nur theoretisch etwas über Gott und den Glauben zu wissen, sondern die Nähe Gottes selber zu erleben.
Davon war das Leben der heiligen Elisabeth sehr stark geprägt. Schon zu Lebzeiten musste sie hinnehmen, dass viele ihre Frömmigkeit als eigenartig und bisweilen übertrieben empfanden. So wird berichtet, dass sie als Kind manchmal "Gott zu lieb" ihr Spiel unterbrach und in der Kirche verschwand; dass sie oft vor dem Altar kniete und hingebungsvoll mehr schaute als sprach...
Durch eine Lebensbeschreibung vom Anfang des 14. Jahrhunderts (einer Art Legendenroman eines unbekannten Autors) werden verschiedene Ereignisse überliefert, die einen Einblick in das Gebetsleben der heiligen Elisabeth geben. Wenn sie nach ihrer Arbeit im Dienst an den Armen und Kranken etwas Freizeit hatte, suchte sie oft einen Ort zum Gebet, wo sie allein sein konnte. Einzig ihre vertrauteste Dienerin Isentrud durfte dann anwesend sein.
Manchmal aber wollte Elisabeth selbst Isentrud nichts von ihren Gebetserfahrungen erzählen, weil sie in Bereiche kam, die mit Worten nicht mehr angemessen zu beschreiben waren. Sie sei oft einfach überflutet gewesen von Glück; göttliche Geheimnisse seien ihr aufgegangen; sie habe mit ihrem inneren Auge die Wunder Gottes geschaut... Einmal heißt es, auch wenn sie beim Gebet Tränen vergoss, blieb ihr Antlitz immer lieblich wie zuvor, fröhlich und aufgeschlossen. "Bei all ihrem anstrengenden Wirken und ihren frommen Übungen bot sie einen anmutigen Anblick."In dieser Aussage verbergen sich zwei wichtige Merkmale einer gesunden Frömmigkeit: Zum einen: Durch das Gebet verlor sie nicht die Beziehung zur Realität, sondern blieb mit beiden Beinen auf der Erde und schöpfte daraus neue Kraft für ihren kompromisslosen Einsatz für die Armen. Und zum zweiten: Sie bot weiter einen "anmutigen Anblick".
Sie wurde nicht sauertöpfisch und mürrisch. Ihre positive Ausstrahlung blieb erhalten und nahm noch zu. "Ihr Antlitz war deutlich von einem wundersamen Glanz übergossen, und es kam jedem so vor, als leuchteten ihre Augen wie die strahlende Sonne." Ein anderes Mal, beim Ostergottesdienst im Jahre 1226, stand in ihrer Nähe ein Priester. "Der gewahrte plötzlich ein Leuchten, und als er dorthin blickte, woher das Leuchten kam, erkannte er die Landgräfin Elisabeth, die unter dem Volk kniete; er sah, wie ihr Antlitz strahlte wie das einer überirdischen Erscheinung, dass er seine Augen mit den Händen bedeckte, weil er die Fülle dieses Glanzes nicht ertragen konnte."
Das Gebet, die Nähe zu Gott, verwandelt den Menschen. Ähnliches hat wohl auch Mose auf dem Berg Sinai erlebt (Exodus 34,30) und Jesus bei seiner Verklärung (Lukas-Evangelium 9,29).
Eine solche Verwandlung fordert eine Antwort. Elisabeth schloss einmal eine intensive Gebetszeit mit den Worten: "Fürwahr, Herr, da du immer bei mir sein willst, so will auch ich dir immer gehören und nie von dir weichen." Das ist das Ziel des geistlichen Lebens, der täglichen Gebete, der Sakramente, der Gottesdienste: ganz mit Gott verbunden zu sein und zu bleiben, in jedem Moment des Alltages. Das macht die Heiligen aus.
Als Elisabeth während ihrer Arbeit im Hospital einmal gefragt wurde, warum sie die niedrige Arbeit tue, antwortete sie: "Wundere dich nicht, dass ich dies tue; nicht ich tue sie, sondern die in mir bleibende Gnade Gottes. Die Werke, die ich tue, sind nichts Verächtliches, sondern vor Gott Wunderbares; sie sind nicht Unflat, sondern Medizin der Sitten." (nach Dietrich von Apolda)
Elisabeth hatte eine Ahnung von der Wirklichkeit Gottes; sie kannte ihn aus eigener Erfahrung. Sie war eine Mystikerin. Sicher läßt sie sich nicht in allen Einzelheiten nachahmen; und doch ist ein jeder von uns - auf seine Weise - berufen, Mystiker zu sein.
*Pater Walter Heck SJ, geb. 1950 in München, ist Mitglied des Jesuiten-Ordens
und wirkt seit 2003 als Spiritual im Regional-Priesterseminar Erfurt.