Elisabeth ist die Heiligkeit nicht in den Schoß gefallen

Von Prof. Dieter Wagner, Fulda*

Mit 24 Jahren starb Elisabeth am 17. November 1231. Ihre Kräfte waren aufgezehrt. Unmittelbar nach ihrem Tod wurde die barmherzige Königstochter und Fürstengattin als Heilige verehrt. Nur vier Jahre nach ihrem Tod hat der Papst in Rom sie heilig gesprochen. [...]

Diese Elisabeth von Thüringen, die nur 24 Jahre gelebt hat, bringt noch heute die Menschen zum Staunen und Nachdenken. Was für eine Frau! Welch einen Lebensweg hat sie beschritten! Was hat diese junge Frau in den wenigen Lebensjahren alles angestoßen? Das Leben Elisabeths wurde nicht nur von ihrem sozialen Gewissen und den Liebesdiensten, die sie so vielen Menschen erwies, bestimmt. Sie war ebenso eine Heilige des Gebetes und der Visionen, wie sie eine Heilige der Nächstenliebe war. Schon als Kind hatte sie gern gebetet, in den Jahren ihrer Ehe hat sich die Liebe zum Gebet gesteigert, und später stand es genau wie die Arbeit für die Kranken und Armen im Mittelpunkt ihres Tages.

Bei aller fraulichen Wärme war Elisabeth auch energisch und unsentimental. Zuweilen wirkte sie herb und hart.  Aber sie besaß noch eine andere Gabe: Sie konnte weinen, während sie weitentrückt lächelte. Traurigkeit und Fröhlichkeit klangen bei ihr ineinander, waren gleichzeitig vorhanden.Heiterkeit war in ihren Tränen, und Tränen waren in ihrer Heiterkeit. Sie, die mit dem Herzen lebte, doch dabei niemals den Kopf verlor, war im Leid zu Hause und vermochte dennoch, ungezwungenen Frohsinn auszustrahlen. Elisabeth war zwar von zäher, aber auch von zarter Natur. So war das, was sie an körperlicher Substanz besaß, eines Tages aufgebraucht. I

So war das, was sie an körperlicher Substanz besaß, eines Tages aufgebraucht. Ihr Vorwärtsdrängen, ihr Verlangen, sich in der Liebe zu Gott und zu ihren Mitmenschen zu erfüllen, verzehrte sie. Doch sie klagte nicht. Elisabeth war keine Heilige, der die Heiligkeit in den Schoß fiel. Sie war eine begnadete Frau, die alle ihre menschlichen Fähigkeiten Gott und den Menschen opferte. Man kann bei ihr beobachten, dass sie unduldsam war, dass sie bereit war, bestimmte Anordnungen – auch solche, die [ihr geistlicher Führer und Beichtvater] Konrad von Marburg auferlegt hatte – zu unterlaufen, und sie war keine ausgeglichene und nie aneckende Persönlichkeit. Solche kleine Mängel und Merkwürdigkeiten zeigen, dass heilige Menschen nicht einfach Idealmenschen sind, sondern Menschen, die sich trotz ihrer Mängel Gott ganz hingegeben haben.

Heilige sind meist ganz anders, als wir sie uns vorstellen. Sie sind uns unfassbar, nicht einzuordnen. Wir vermögen uns nicht in sie hineinzudenken. Wir messen sie mit dem uns zur Verfügung stehenden Maß, das nicht auf sie geeicht ist. Wir decken das Unerklärliche ihrer Existenz mit Erklärungen zu. Die Spannweite ihrer Persönlichkeit erschreckt uns. Deshalb sind wir bemüht, sie auf ein gängiges Format einzuschrumpfen, Klischees von ihnen zu schaffen, die wir auf fein verzierte Sockel stellen und verehren. Heilige sind meist ganz anders, als wir sie uns vorstellen. Sie sind uns unfassbar, nicht einzuordnen. Wir vermögen uns nicht in sie hineinzudenken. Wir messen sie mit dem uns zur Verfügung stehenden Maß, das nicht auf sie geeicht ist.

Wir decken das Unerklärliche ihrer Existenz mit Erklärungen zu. Die Spannweite ihrer Persönlichkeit erschreckt uns. Deshalb sind wir bemüht, sie auf ein gängiges Format einzuschrumpfen, Klischees von ihnen zu schaffen, die wir auf fein verzierte Sockel stellen und verehren. Dort vermögen sie uns nicht mehr zu beunruhigen und die Werte unserer Welt auf den Kopf zu stellen. So ist es auch Elisabeth von Thüringen ergangen — über Jahrhunderte hinweg verhüllten sie die Rosenhecken der Legenden. Ihre Geschichte, so wie sie lange Zeit weitergegeben wurde, verwischte ihr impulsives Aufbegehren gegen eine gesellschaftliche Umwelt, die sie als ungerecht und sittlich substanzlos empfand; sie verdeckte ihre heftige und zärtliche Liebe mit dem Schleier einer unpassenden Schicklichkeit; sie glättete die Unerbittlichkeit, mit der sie ihren Weg ins Absolute suchte; sie verbarg die Tiefe ihrer Leidenschaft, eins mit Gott zu werden.

Die von den Rosen umschlungene liebliche Prinzessin, die den Armen und Kranken ihr Mitleid und ihre Gaben schenkte, das war sie vielen. Doch sie ist erheblich mehr. — Wer die blühenden Hecken auseinanderbiegt, stößt auf eine in jeder Beziehung bemerkenswerte Frau — von körperlicher und geistiger Anmut, ungezwungen, zuweilen unbändig in ihren Reaktionen, mit Zartgefühl begabt und von heiterer Demut, radikal und konsequent auf der Suche nach ihrem Lebensziel; eine Frau, die mit ungewöhnlicher Intensität lebte und fühlte, über sich hinausstrebend und früh vollendet. Ihr Leben war wie ein rasch verklingendes Lied.


Von Prof. Dieter Wagner, Fulda*

*Oberschulrat i.R. Dieter Wagner ist Honorarprofessor für Religionspädagogik und Katechetik an der Theologischen Fakultät Fulda. Der Beitrag "Elisabeth ist die Heiligkeit nicht in den Schoß gefallen" ist der Schluss des Vortrages "Warum die wilde Elisabeth eine Heilige geworden ist" anlässlich der Kinderuniversität 2007 der Kinder-Akademie Fulda im Auditorium Maximum der Theologischen Fakultät Fulda am 28. Februar 2007.